Die Umbruchzeit der Digitalisierung dürfte Opfer kosten. Diese sind weit größer als das, was die Bürger der DDR in der Umbruchzeit der deutschen Vereinigung erlebt haben. Richard David Precht kennt die Zukunft auch nicht: „Ob es mit der Moral in Deutschland alles in allem bergab oder vielleicht doch bergauf geht, ist eine heiß umstrittene Frage.“ Auf der einen Seite steht das Gefühl jener Generation, dass Pflichtgefühl, Treue, Gemeinsinn, Arbeitsmoral, Sitte und Anstand kontinuierlich nach unten gingen. Erstaunlich nur, dass es sie, so oft totgesagt, heute irgendwie immer noch gibt. Was seit über hundert Jahren zur Neige geht, müsste eigentlich irgendwann einmal erloschen sein. Kulturpessimismus scheint oft mehr mit dem Lebensalter und den persönlichen Zukunftserwartungen zu tun zu haben als mit dem Zeitalter und den gesellschaftlichen Ausblicken auf die Zukunft. Der Philosoph, Publizist und Autor Richard David Precht einer der profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.
Die Work-Life-Balance rückt in den Vordergrund
Der „Verfall der Werte“, so es ihn gibt, wird möglicherweise meist in gleichem Maße vom Aufstieg anderer Werte flankiert. Richard David Precht stellt fest: „Mag sein, dass mancher heute die Arbeitsmoral der jüngeren Generation betrauert – ein Klassiker unter den Indizien des Werteverfalls.“ Die Verdächtigen selbst würden wohl sagen, dass Arbeit in der Wohlstandsgesellschaft einfach nicht mehr den Stellenwert hat, den sie in der Agrar- oder Industriegesellschaft hatte.
Dafür ist ihnen ein neuer Wert, jener der Work-Life-Balance wichtig geworden. Junge Männer brauchen beispielsweise mehr Zeit, um sich als gute Väter ausgiebig um ihre Kinder zu kümmern – ein Wert, den es früher so gar nicht gab. Zumindest in einigen Bereichen findet also kein Werteverfall, sondern eine neue Wertekonkurrenz statt. Viele junge Menschen haben heute mehr Werte als die Generation ihrer Urgroßeltern. Das sind Werte, die allerdings leicht zueinander in Konkurrenz treten.
Die Ökonomie feiert nur noch den Erfolg
Neben der Religion passt auch die „Nation“ immer schlechter in die globalisierte Ökonomie des 21. Jahrhunderts. Richard David Precht weiß: „Nationalismus blüht gemeinhin dort, wo es um das, was die Nation sein soll, schlecht bestellt ist.“ Auch religiöse Fundamentalismen sind meist ein zuverlässiges Indiz dafür, dass die religiösen Fundamente erschüttert sind. Ansonsten wären beide -ismen nicht notwendig. In den westlichen Industriegesellschaften herrscht manchmal die Angst vor Identitätsverlust vor.
Dies bringt wilden irrationalen Populismus und Populisten hervor, was in den vergangenen Jahren häufig betont worden ist. Richard David Precht betont: „Die Ökonomie und die durch sie geprägte Gesellschaft feiern heute nicht mehr Leistung, sondern Erfolg.“ Der Traum vom schnellen Geld und das Wissen um die verringerten sozialen Aufstiegschancen der meisten lassen den Glauben an identitätsstiftende Erzählungen wie die „deutsche Tüchtigkeit“ bröckeln. Quelle: „Von der Pflicht“ von Richard David Precht
Von Hans Klumbies