Die Corona-Krise 2020 kam nicht überraschend

So verstörend die Auswirkungen auch waren, so hätte die Corona-Krise 2020 eigentlich keine Überraschung sein dürfen. Adam Tooze stellt fest: „Es war ein Unfall, der irgendwann passieren musste. Nicht nur, dass unsere moderne Lebensweise die Mutation potenziell gefährlicher Viren beschleunigt hat, wir tragen sie auch mit der Geschwindigkeit von Düsenflugzeugen um die Welt.“ Experten wussten um die Risiken und erstellten hypothetische Pläne, wie die Menschheit reagieren könnte. Die breite Bevölkerung hat hohe Erwartungen an Kontrolle und Vorhersagbarkeit. Das ganze Leben der Menschen dreht sich um Systeme, die sehr anfällig für Massenansteckungen sind. Dennoch gab es seitens derer, die es sich hätten leisten können, keine Bereitschaft, für echte Vorsorge zu bezahlen. Adam Tooze lehrt an der Columbia University und zählt zu den führenden Wirtschaftshistorikern der Gegenwart.

Die Corona-Krise erinnerte an die Grippepandemie von 1918/19

Rückblickend betrachtet könnte man die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts als Narrativ einer prognostizierten Katastrophe erzählen. Das Analogon, das im Jahr 2020 in aller Munde war, war die Grippepandemie von 1918/19. Von ihr waren damals Hunderte Millionen Menschen auf der ganzen Welt betroffen. Dutzende Millionen starben, eine Katastrophe, die weitaus größer war als die der Gegenwart. Sie hinterließ bei einer ganzen Generation tiefe Narben. In einigen Städten brachte sie das normale öffentliche Leben für einige Monate zum Erliegen, führte zu Geschäftsschließungen und sozialer Distanzierung.

Adam Tooze stellt fest: „Das aus unserer Sicht Bemerkenswerte ist jedoch, wie schnell diese schreckliche Katastrophe verarbeitet wurde und wie wenig sie sich auf die politische Geschichte ihrer Zeit auswirkte.“ Die Verhandlungen über den Versailler Vertrag führte man ungeachtet der Pandemie weiter. So bestürzt die Zeitgenossen auch waren und so sehr sie trauerten, so lebten sie doch vor dem historischen Moment des epidemiologischen Übergangs. Es war nicht ungewöhnlich, dass Menschen jeden Alters einer Infektionskrankheit erlagen.

Eine „globale Gesundheitssicherheit“ gewann an Bedeutung

Tuberkulose, Cholera, Pest waren weltweit die großen Killer. Vor dem Hintergrund eines großen Kriegs kam die Pandemie nicht überraschend. Im Nachhinein betrachtet war die Spanische Grippe jedoch ein Wendepunkt in der Entwicklung des öffentlichen Gesundheitsregimes. In den 1990er Jahren trat die öffentliche Gesundheit unter dem Banner des Kampfes gegen „aufkommende Infektionskrankheiten“ in das neue Zeitalter der Globalisierung ein.

In Hongkong tauchten besorgniserregende Stämme der Vogelgrippe auf. Adam Tooze fügt hinzu: „Der Sarin-Anschlag in der Tokioter U-Bahn im Jahr 1995 schärfte das Bewusstsein für neue, exotische Arten des Terrorismus.“ Wie es sich für den unipolaren Hegemon dieser Zeit gehörte, übernahmen vor allem die Vereinigten Staaten die Führung bei der Definition einer neuen Agenda für „globale Gesundheitssicherheit“. Der Terroranschlag vom 11. September 2001 erhöhte die Alarmbereitschaft. Quelle: „Welt im Lockdown“ von Adam Tooze

Von Hans Klumbies