Die Anhänger politischer Korrektheit verleugnen das Wirken soziale Zwänge

Auch heute ist die Freiheit des Einzelnen innerhalb des gesellschaftlichen Gefüges zentral. Pauline Voss erklärt: „Die Anhänger der politischen Korrektheit beharren darauf, dass sie deren Regeln freiwillig befolgten, dass es ihnen sogar eine Freude sei, durch eine inklusive Sprache und rücksichtsvolles Verhalten Diskriminierung zu verringern.“ Die Mechanismen der Cancel Culture empfinden sie als normale und keineswegs repressive Vorgänge innerhalb kontroverser Debatten. Beschwerden über einen verengten öffentlichen „Meinungskorridor“, der definiere, was gesagt werden dürfe und worüber geschwiegen werden müsse, haten sie für übertrieben. Schließlich herrsche im Westen Meinungsfreiheit: Kein Gesetz verpflichtet zu einer politisch korrekten Haltung oder Sprache. Diese Argumentation erstaunt: Ausrechnet jene, die durch die Dekonstruktion der Diskurse die Verhältnisse verändern wollen, die also das Durchbrechen sozialer Zwänge als ultimatives Machtinstrument propagieren, verleugnen – wenn ihr eigenes Verhalten hinterfragt wird – das Wirken sozialer Zwänge. Pauline Voss ist seit 2023 als freie Journalistin tätig.

Alle Bücher von Michel Foucault sind kleine Werkzeugkästen

Dabei zeigte ihr eigener philosophischer Säulenheiliger auf, welche Macht diese Zwänge ausüben. Pauline Voss erläutert: „Der französische Philosoph Michel Foucault untersuchte den Einfluss von Normen aus jene Sphären, in die Gesetze nicht hineinreichen. Er entschlüsselte die versteckten Formen dieser normierenden Macht, die den Diskurs lenkt, wo keine übergeordnete Autorität ihn reguliert.“ Doch obwohl die Denkschule der Wokeness sich auf diese Analysen stützt, blenden ihre Verfechter den repressiven Charakter der Normierung aus, sobald es um ihre eigenen woken Normen geht.

„Alle meine Bücher“, erklärte Michel Foucault 1976 in einem Interview, „sind […] kleine Werkzeugkästen. Wenn die Leute sie öffnen und sich dieses Satzes, jener Idee, einer bestimmten Analyse als Schraubenzieher oder Maulschlüssel bedienen möchten, um die Machtsysteme kurzzuschließen, zu disqualifizieren, eventuell sogar die eingeschlossenen, aus denen meine Bücher hervorgegangen sind – gut, umso besser.“ Die woken Aktivisten machen sich die Werkzeuge Michel Foucaults in einer Weise zunutze, die seine Theorien entstellt.

Die sozialen Netzwerke sorgen für eine allumfassende Weltöffentlichkeit

Anstatt seine Untersuchung totalitärer Mechanismen als Analyse zu verstehen, verwenden die woken Aktivisten sie als Anleitung zu totalitärem Denken. Die Nachbarschaft eines Menschen hat sich mit der Erfindung des Internets explosionsartig ausgedehnt. Pauline Voss fügt hinzu: „Die sozialen Netzwerke haben die Bedeutung der physischen Nachbarschaft geschmälert und durch eine Weltöffentlichkeit ersetzt, in der jeder zum Publizisten werden kann.“

Alle menschlichen Regungen, in Bild oder Schrift festgehalten, werden zur Verfügungsmasse in dieser aus unterschiedlichen Weltregionen verschmolzenen Giganachbarschaft. Pauline Voss ergänzt: „Dennoch ähneln die Mechanismen dieser neuen Nachbarschaft jener der alten, deren gesellschaftliches Korrektiv der Blick durch die Gardine war. Heute ermöglicht das anonyme Nutzerkonto, zu beobachten, ohne selbst gesehen und erkannt zu werden.“ Wer im digitalen Raum gegen die Regeln des Anstands verstößt, kann sicher sein, bei seinem Fehltritt beobachtet zu werden. Quelle: „Generation Krokodilstränen“ von Pauline Voss

Von Hans Klumbies