Ohne Zweifel gibt es die analoge Welt noch. Es gibt echten Zufall, spontane Liebe, unaufgeklärte Verbrechen, Mutationen und Geheimnisse. Eva Menasse fügt hinzu: „Und es gibt typisch menschliches Verhalten, darunter Ängste, die sich in Jahrmillionen körperlich eingeschrieben haben und weitervererbt werden. Menschen fürchten sich intuitiv immer noch vor Skorpionen und Schlangen statt vor Autos.“ So bestürzend langsam ist dieses Säugetier, einerseits. Seine durchschnittliche Lebenserwartung mag sich, zumindest für die in Industriestaaten lebenden Exemplare, binnen zweihundert Jahren mehr als verdoppelt haben. Im Vergleich zu der Zeit, die seine Reaktions- und Verhaltensmuster gebraucht haben, um sich auszubilden, ist das nicht einmal ein Wimpernschlag. Andererseits verheddert sich das hochmütige, himmelstürmende Säugetier augenscheinlich immer häufiger in seinen eigenen Erfindungen. Die Romane der österreichischen Schriftstellerin Eva Menasse sind vielfach ausgezeichnet worden.
Der Mensch verliert die Kontrolle über die eigenen Schöpfungen
Das ist ihm schon früher widerfahren, als er Waffen schuf, die weiter entfernt töteten, als seine Augen sehen konnten. Er baute Bomben, die Landstriche auslöschten und auf Jahrzehnte kontaminierten. Zudem versuchte er, sich zu klonen, und begann in die eigenen genetischen Strukturen einzugreifen. Eva Menasse ergänzt: „Inzwischen züchtet es sowohl Fleisch wie Intelligenz im Labor. Faszinierend bleibt, dass es seinen potenziell lebensbedrohlichen Ehrgeiz selbst immer künstlerisch-analytisch begleitet hat.“
Der Homo sapiens dachte sich Ikarus aus, er zu nah an die Sonne flog, sodass seine künstlichen Flügel schmolzen, Kroisos, der in seiner Gier zu ungenau wünschte und verhungern und verdursten musste, weil ihm auch Wasser und Brot zu Gold wurde, eben alles, was er berührte. Eva Menasse stellt fest: „Und ein wiederkehrendes Motiv ist das vom vergessenen Zauberspruch, von der verlorenen Kontrolle über die eigenen Schöpfungen.“ Johann Wolfgang Goethe griff dieses Motiv in seiner Ballade vom „Zauberlehrling“ auf und schrieb: „Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los.“
Wissen und Möglichkeiten explodieren
Man könnte sich also gelangweilt zurücklehnen, unauffällig auf dem iPhone die Weltlage überfliegen, die privaten Nachrichten checken, nach einem Flug googeln oder ein Pornobild verschicken und dabei denken: „Es ist nur technischer Fortschritt, vor fünfzig Jahren noch so unvorstellbar wie hundert Jahre davor die Passagierluftfahrt.“ Das Leben wird immer leichter, Wissen und Möglichkeiten explodieren einerseits und sind doch, betörendes Paradox, theoretisch für alle erreichbar.
Ängstliche und Skeptiker hat es ebenfalls immer gegeben. Eva Menasse blickt zurück: „Damals, als die erste Eisenbahn fuhr, dachten manche, die inneren Organe des Menschen würden die vierundzwanzig Stundenkilometer nicht vertragen, könnten innerlich abreißen und einander tödlich beschädigen.“ Damals, al die ersten Fotografien gemacht wurden, glaubten manche, der Apparat stehle ihnen die Seele. Und in Wahrheit? Macht die Menschheit immer weiter, schickt sie Sonden zum Mars, setzt Stents in Herzkranzgefäße, fast so leicht, wie man Glühbirnen einschraubt. Quelle: „Alles und nichts sagen“ von Eva Menasse
Von Hans Klumbies