Die Ästhetik konkurriert mit der Philosophie

Was heißt es, ein Mensch zu sein? Und insbesondere was heißt es in der heutigen Zeit ein Mensch zu sein? Das sind Fragestellungen, die typisch für Philosophen sind. Aber die Philosophie hat in ihrem Versuch, die großen Fragen nach dem Menschen und seinem in der Welt sein zu beantworten, durchaus auch Konkurrenz. Lambert Wiesing stellt fest: „Der zweifellos bekannteste Mitbewerber ist die Religion.“ Man sollte seiner Meinung allerdings folgendes nicht übersehen. Nämlich dass es noch einen weiteren wichtigen Mitbewerber für die Zuständigkeit für die großen Fragen gibt. Denn es ist keineswegs so, dass sich nur die Philosophie und die Religion mit der Frage nach der „conditio humana“ befassen. Prof. Dr. Lambert Wiesing lehrt an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena Bildtheorie und Phänomenologie. Außerdem ist er geschäftsführender Direktor des Instituts für Philosophie.

Die Ästhetik reflektiert das Dasein des Menschen

Es gibt – und dies ist eine ganz traditionelle Ansicht – mindestens drei klassische Instanzen. Diesen wenden sich Menschen immer wieder mit der Hoffnung zu, durch sie eine Antwort zu finden, was es heißt, ein Mensch zu sein. Oder doch zumindest eine Hilfe bei der Beantwortung der Frage. Lambert Wiesing weist auf den weiten Bereich der Ästhetik als dritten Ort hin. Auch an diesem versuchen Individuen, das Dasein des Menschen als Mensch in seiner Zeit zu reflektieren. Neben dem philosophischen und dem religiösen Weg besteht die mindestens ebenso lange Tradition, sich der Frage „Was ist der Mensch?“ ästhetisch zu nähern.

Wahrscheinlich wie kein anderer Philosoph hat Georg Wilhelm Friedrich Hegel diesen Gedanken von den drei klassischen Orten der Reflexion des menschlichen Selbstbewusstseins ausgearbeitet. Seine diesbezügliche Meinung – welche, zu seinen philosophischen Hauptthesen zählt – lässt sich leicht darstellen. Lambert Wiesing erklärt: „Sie lautet: Die Kunst, die Religion und die Philosophie bearbeiten dieselben Inhalte. Sie tun das nur auf unterschiedliche Weise. Sie stellen sich dieselbe Aufgabe.“ In allen drei Bereichen geht es für Georg Wilhelm Friedrich Hegel gleichermaßen um folgendes: „Die tiefsten Interessen des Menschen, die umfassendsten Wahrheiten des Geistes zum Bewusstsein zu bringen und auszusprechen“.

Die Philosophie steht über der Religion

Allerdings war Georg Wilhelm Friedrich Hegel nicht nur der Meinung, dass Menschen auf diesen drei Wegen ihr Dasein als Mensch geistig reflektieren. Er meinte darüber hinaus auch noch folgendes. Dass es erstens eine notwendige Chronologie und zweitens eine eindeutige Hierarchie zwischen diesen drei Wegen gibt. Lambert Wiesing sagt es vereinfacht: „Für Hegel versuchten sich die Menschen am Anfang ihrer Bewusstseinsgeschichte mittels der Kunst selbst zu verstehen. Er denkt hier insbesondere an die alten Griechen.“

Dann kommt für Georg Wilhelm Friedrich Hegel eine Epoche, in der die Religion das avancierteste Medium war, um als Mensch über das Menschsein zu reflektieren. Doch auch diese zweite Phase der Religion wurde dann wiederum durch eine – aus Hegels Sicht – bessere Form der Selbstreflexion überwunden. Eben durch die Philosophie. Wobei Hegel hier – selbstverständlich in aller Bescheidenheit – an seine eigenen Philosophie denkt. Auch Friedrich Schiller erkennt natürlich, dass Menschen durch Religion und Philosophie versuchen, sich die größte aller großen Fragen, nämlich „Was ist ein Mensch?“, zu beantworten. Doch anders als Georg Wilhelm Friedrich Hegel verteidigt er keineswegs den philosophischen Weg. Ganz im Gegenteil: Er hält diesen für genauso gescheitert, wie den religiösen. Quelle: „Über Gott und die Welt“ von Konrad Paul Liessmann (Hrsg.)

Von Hans Klumbies