Die biographische Zeit in Robert Musils Kurzroman „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ ist die Adoleszenz, „das Alter des Übergangs“, das der Erzähler „als einen gefährlich weichen seelischen Boden“ bezeichnet, kurzum eine Welt, die man von anderen Autoren zu Anfang des 20. Jahrhunderts wie Frank Wedekind, Hermann Hesse oder Robert Walser kennen. Wolfgang Müller-Funk erklärt: „Der Verweis auf diese Autoren macht sinnfällig, dass jene Momente, die Musil sehr luzide beschreibt, sich auch in anderen Werken auf unterschiedliche Weise finden.“ Die Pointe der Geschichte Robert Musils besteht freilich darin, dass die Grausamkeit der drei angehenden Männer an einem vierten nicht so sehr durch zügellose Aggression hervorgerufen werden, sondern durch eine extreme Empfindlichkeit. Wolfgang Müller-Funk war Professor für Kulturwissenschaften in Wien und Birmingham und u.a. Fellow an der New School for Social Research in New York und am IWM in Wien.
In der Pubertät ist das eigene Selbstwertgefühl instabil
Manès Sperber schreibt in diesem Zusammenhang davon, dass sich „im Pubertätsalter […] jene Machtpläne“ konkretisieren, von denen der Mensch „sich nie mehr befreien wird.“ In diesem Alter ist das eigene Selbstwertgefühl instabil und die damit verbundene Sensibilität für Kränkung überaus stark. Wolfgang Müller-Funk ergänzt: „Nicht unerschütterliches Selbstvertrauen, sondern ein schwaches Selbstgefühl, das immer des Beweises bedarf, die demnach die Ursache für Macht- und Gewaltobsessionen.“
Die Kasernierung wirkt dabei wie ein Verstärker solcher gewaltsamen Experimente mit dem Anderen, die in der Pubertät unverstellt zutage treten und als exemplarisch zu verstehen sind. Wolfgang Müller-Funk stellt fest: „Allerdings geht es an der zentralen Thematik des Textes vorbei, wenn in der Sekundärliteratur nach 1968 und in der Verfilmung von Volker Schlöndorff die Sozialkritik zu stark fokussiert wird.“ Diese Deutungen und Adaptionen waren seinerzeit naheliegend, doch wird dabei der anthropologische Charakter des Textes ausgeblendet.
Robert Musil führt jugendliche Grausamkeit in einem Oberschicht-Milieu vor
So ist nicht unwichtig, dass die minuziöse Studie jugendlich-männlicher Grausamkeit in einem Oberschicht-Milieu vorführt, wobei der Ort der Disziplinierung im Sinne Michel Foucaults eine wichtige Voraussetzung für das Geschehen bildet. Ort der männlichen, sexuellen Initiierung ist das Bordell und die Akteurin, die sie inszeniert, ist eine Prostituierte. Wolfgang Müller-Funk erläutert: „Diese Szene konstituiert einen Zusammenhang zwischen derber und verstörender sexueller Sozialisation, verdrängter Empfindlichkeit und Lust an einer Grausamkeit, die nicht mit spontaner Aggression verwechselt werden darf.“
Dabei ist dem sexuellen Trieb nicht zu entkommen, was doppelt beschämend ist. Wolfgang Müller-Funk fügt hinzu: „Repräsentiert wird die bedrohliche und doch auch unwiderstehliche Sexualität von einer sprachlich und kulturell Fremden, einer deklassierten Person, die außerhalb der moralische Ordnung steht.“ Von einer Frau, die in dem selbstverständlichen Männer-Diskurs der Zeit den „niederen“ Trieb repräsentiert und nicht der eigenen symbolisch-sprachlichen Ordnung angehört. Quelle: „Crudelitas“ von Wolfgang Müller-Funk
Von Hans Klumbies