Der Staat muss das Leben der Bürger schützen

Zu Beginn des Jahres 2020 war das Missverhältnis zwischen Pandemierisiko und den Investitionen in die globale öffentliche Gesundheit geradezu grotesk. Von „Markversagen“ zu sprechen, untertreibt freilich, worum es im Kern der Sache geht. Adam Tooze erklärt: „Was bei der Reaktion auf pandemische Bedrohungen auf dem Spiel steht, ist nicht nur ein ungeheurer wirtschaftlicher Wert. Es geht vielmehr um grundlegende Fragen der sozialen Ordnung und der politischen Legitimität.“ Denn das Versprechen das Leben seiner Bürger zu schützen, ist eine der Grundlagen des modernen Staates. Im Jahr 2020 ließ sich die Vorstellung, dass es sich bei Covid „nur um eine Grippe“ handelte, schwerer verkaufen, als es sich ihre Verfechter vorgestellt hatten. Adam Tooze lehrt an der Columbia University und zählt zu den führenden Wirtschaftshistorikern der Gegenwart.

Die Pandemievorbereitung war organisierte Unverantwortlichkeit

Man kann sich problemlos einen globalen Ausbruch einer Ebola-ähnlichen Krankheit vorstellen. Gleichzeitig gibt es aber weder die Bereitschaft, strukturelle Veränderungen an der Nahrungskette oder dem Verkehrssystem vorzunehmen, um das Risiko zu verringern. Noch gibt es den Willen, in ein angemessenes öffentliches Gesundheitssystem zu investieren. Kein Wunder also, dass eine globale Bestandsaufnahme der Pandemievorbereitung im Jahr 2019 buchstäblich jeder Regierung der Welt ein „Ungenügend“ attestierte.

Man hat es hier mit einem klassischen Fall dessen zu tun, was der deutsche Soziologe Ulrich Beck „organisierte Unverantwortlichkeit“ nannte. Adam Tooze ergänzt: „Und das birgt das Potenzial nicht nur für wirtschaftliche und soziale Schäden, sondern auch für eine politische Krise. Angesichts einer plötzlichen und unerwarteten Bedrohung des Lebens können die zuständigen staatlichen Stellen in der Tat nicht gleichgültig bleiben.“ Sie wollen unbedingt auf die Krankheit reagieren. Tatsächlich gibt es für ihre Reaktion im Prinzip keine Grenzen.

Eine Pandemie lässt die Menschen aufschrecken

Im öffentlichen Diskurs stehen Leben und Tod nicht auf der gleichen Stufe wie andere Prioritäten. Wenn Menschen gezwungen wären, eine Rangfolge aufzustellen, würden sie Leben und Tod in eine andere Kategorie einordnen. Die Aussicht auf irgendeinen Tod, geschweige denn auf ein Massensterben, bringt die öffentliche und politische Debatte leicht zum Stillstand. Ein Schock wie beispielsweise eine Pandemie lässt die Menschen aufschrecken.

Adam Tooze stellt fest: „Aber auch die normale, vorpandemische Matrix von Leben und Tod ist politisch unstabil. Obwohl sie von skandalösen Ungleichheiten durchzogen ist, wird die übliche Ordnung des Todes als solche akzeptiert, solange sie nicht gerechtfertigt werden muss.“ Wenn man sie ans Tageslicht zerrt und nachhaltig in Frage stellt, ist sie augenscheinlich nicht zu rechtfertigen. Es lag also eine tiefe Logik in dem zeitlichen Zusammentreffen der Pandemie mit dem großen politischen Aufruhr von Black Lives Matter im Sommer 2020. Quelle: „Welt im Lockdown“ von Adam Tooze

Von Hans Klumbies