Der Individualismus hat alle gleich gemacht

Das Zeitalter des ersten Individualismus erstreckte sich von 1800 bis in die 1960er Jahre. Es handelt sich dabei um jenen paradoxen Individualismus, der alle gleich gemacht hat. Isolde Charim erklärt: „Damals bedeutete Individualismus Abstraktion von Herkunft, Abstraktion von sozialer Stellung, Abstraktion von partikularen Bestimmungen. So entstand das >Individuum des Universellen<, wie Pierre Rosanvallon es nennt – die Grundlage des demokratischen Subjekts als Wähler, als juristisches Subjekt.“ Jenes Subjekt, das sich über die Abstraktion, über das Absehen von seinen konkreten Bestimmungen vergesellschaftete. Individualismus bedeutete also nicht Vereinzelung, sondern Eintritt als abstrakt Gleicher, als Citoyen in die Gesellschaft. Es war dies aber auch die Grundlage des nationalen Typus, der dem Einzelnen eine Gestalt angeboten hat. Das war eine allgemeine Gestalt jenseits seiner ganz individuellen, partikularen Bestimmung. Die Philosophin Isolde Charim arbeitet als freie Publizistin und ständige Kolumnistin der „taz“ und der „Wiener Zeitung“.

Der zweite Individualismus ist die Ära der Authentizität

In den 1960er Jahren kann man eine Zäsur des Individualismus verorten. Isolde Charim erläutert: „Da beginnt ein ganz anderer, ein neuer, der zweite Individualismus.“ Für den alten Individualismus waren Großverbände – wie politische Parteien oder Kirchen, aber auch Schulen – zentrale Instanzen. Diese Institutionen stellten dem ersten Individualismus einen vorgegebenen Lebensweg und eine vorgegebene Lebensweise bereit. Das tiefe Eindringen dieser Großformationen ins Leben der Einzelnen erfolgte durch vielfältige Praktiken.

Dies schaffte ein starke Bindung des Einzelnen an die Großgruppe und daraus folgend auch eine starke und eindeutige Identität. Genau hier setzte der neue, der zweite Individualismus an. Isolde Charim stellt fest: „Dieser zweite Individualismus verweigerte sich den vorgegebenen Lebens- und Ausdrucksformen und bestimmte sich durch die Suche eines eigenen Weges.“ Dieser Weg sei die Suche nach „authentischen Lebens- und Ausdrucksformen“, so der kanadische Philosoph Charles Taylor, weshalb er das Zeitalter des zweiten Individualismus auch als „Zeitalter der Authentizität“ bezeichnet.

Unabhängige Geister prägen den zweiten Individualismus

Das Leben wurde zu einem „persönlichen Projekt“, so der amerikanische Moralphilosoph Michael Walzer. Dies ist nicht nur ein anderer, ein neuer Individualismus – es ist auch einer, der dem alten diametral entgegengesetzt ist. Weshalb er auch die Erosion der Großformen und das Ende der politischen, der religiösen und klassenbestimmten Lebenswelten eingeläutet hat: Statt Eingebundensein stand Ungebundenheit auf dem Programm. Hervor gingen „Herden unabhängiger Geister“, wie Michael Walzer es nannte.

Der nunmehr ungebundene Einzelne hatte die alten Organisationen wie Großparteien oder Kirchen verlassen, welche die Verbindung zum Ganzen der Gesellschaft hergestellt haben. Der Zugang zur Gesellschaft, auch der politische, verlagerte sich damit zunehmend auf den Einzelnen. Ein Zugang, der nicht mehr notwendigerweise in einen staatlichen Rahmen eingebettet war. So konnten etwa die politischen oder religiösen Individuallösungen natürlich nach wie vor zu Gemeinschaften und Großgruppen führen, sie konnten aber ebenso zu lockeren Gruppierungen führen, die auch nur punktuelle Zusammenschlüsse sein konnten. Quelle: „Ich und die Anderen“ von Isolde Charim

Von Hans Klumbies

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