Der Neoliberalismus bedrohte die liberale Demokratie

Francis Fukuyama schreibt: „Die individuelle Autonomie wurde von den liberalen Rechten auf die Spitze getrieben, die dabei allerdings vor allem die wirtschaftliche Freiheit im Auge hatte. Sie wurde aber auch von den liberalen Linken extrem überhöht, die eine ganz andere Art von Autonomie anstrebt, bei der die individuelle Selbstverwirklichung im Mittelpunkt stand.“ Während der Neoliberalismus die liberale Demokratie bedrohte, indem er übermäßige Ungleichheit und finanzielle Instabilität verursachte, entwickelte sich der linke Liberalismus zu einer modernen Identitätspolitik, die durch einige ihrer Ausprägungen allmählich die Prämissen des Liberalismus selbst unterminierte. Das Konzept der Autonomie beziehungsweise der Selbstbestimmtheit wurde auf eine Weise verabsolutiert, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährdete. Und in ihrem Dienst machten sich progressive Aktivisten daran, sozialen Druck auszuüben und die Macht es Staates auszunutzen, um Stimmen zum Schweigen zu bringen, die ihnen und ihrer Agenda kritisch gegenüberstanden. Francis Fukuyama ist einer der bedeutendsten politischen Theoretiker der Gegenwart.

Der Liberalismus betont den Universalismus und fordert Toleranz

Die Ausweitung der Bereichs der individuellen Autonomie erfolgte auf zwei Feldern. Das erste Feld war philosophischer Art. Francis Fukuyama erklärt: „Die Bedeutung der persönlichen Autonomie wurde von der freien Wahl innerhalb eines etablierten moralischen Rahmens auf die Befähigung erweitert, auch den Rahmen frei wählen zu können.“ Das zweite Feld war politischer Art: Die Autonomie gewann eine weiter gefasste Bedeutung, die sich nicht mehr auf das Individuum selbst beschränkte, sondern auch für die Gruppe galt, in die das Individuum eingebettet war.

Die erste Entwicklung verabsolutierte die Selbstbestimmtheit gegenüber allen anderen menschlichen Gütern, während die zweite Entwicklung dazu führte, dass einige der grundlegenden Prämissen des Liberalismus in Frage gestellt wurden, wie zum Beispiel die liberale Betonung des menschlichen Universalismus oder seine Forderung nach Toleranz. Francis Fukuyama ergänzt: „Autonomie oder Entscheidungs- beziehungsweise Handlungsfreiheit wird im westlichen Denken seit langem als der Wesenszug angesehen, der uns Menschen zum Menschen macht und der daher die Grundlage der Menschenwürde darstellt.“

Erwachsene müssen Regeln und Gesetze befolgen

Die Fähigkeit zur Entscheidung verleiht den Menschen einen moralischen Zwischenstatus: Sie stehen höher als der Rest der erschaffenen Natur, weil sie im Unterschied zu Tieren und Pflanzen eigene Entscheidungen treffen können und nicht nur von ihrer Natur getrieben werden. Francis Fukuyama fügt hinzu: „In der Entwicklung jedes Menschenkindes können wir den Übergang von der Unschuld zur Erkenntnis von Gut und Böse beobachten.“ Kinder werden gewissermaßen ohne moralisches Wissen geboren und handeln nur nach Instinkt.

Aber wenn sie sich vom Kind zum Erwachsenen entwickeln, werden sie mit den Vorstellungen dessen, was richtig oder falsch ist, konfrontiert. Ihr moralisches Empfinden entwickelt sich so, dass sie befähigt werden, eigene Entscheidungen zu treffen. Francis Fukuyama stellt fest: „Die Altersgrenzen für diesen Übergang zum Erwachsenen werden in den verschiedenen Kulturen und Rechtssystemen dieser Welt unterschiedlich festgelegt, aber keine Kultur verzichtet darauf, Erwachsene ab einem gewissen Alter zur Befolgung ihrer Regeln und Gesetze zu verpflichten.“ Quelle: „Der Liberalismus und seine Feinde“ von Francis Fukuyama

Von Hans Klumbies