Der französische Soziologe Bruno Latour hat vor drei Jahrzehnten den Gedanken der Hybridität zu einem neuen, ökologischen Weltverständnis ausgeweitet. Roger de Weck erklärt: „Kultur und Natur, Lebewesen und Dinge, die Gesellschaft und ihre Gegenstände stünden nicht nur in ständiger Wechselbeziehung zueinander, sie seien darüber hinaus als hybride Kollektive zu begreifen.“ Darin liegt gedankliche Subversion der radikalen Art. Bruno Latour relativierte die uralte Ordnung, in welcher der Mensch die Krone der Schöpfung ist. „Macht euch die Erde untertan“? Latour stellte letztlich auf die gleiche Stufe, was zuvor als völlig ungleich und unvergleichbar galt: den Menschen, das Tier, die Dinge. Diese neue Weltanschauung verdankt vieles dem postkolonialen Denken. Die Befreiung und allmähliche Emanzipation der Kolonien kündigen eine Ära an, in der sich der Westen nicht länger die Erde untertan machen kann, weder politisch noch ökonomisch noch ökologisch. Roger de Weck ist ein Schweizer Publizist und Ökonom.
Hugo Loetscher zählte zu den Vorboten des hybriden Denkens
Das stellte die lang selbstverständliche Hackordnung infrage. Roger de Weck weiß: „Und in der Kolonialzeit hatte nicht generell der Mensch an der Spitze der Pyramide gestanden, sondern der weiße Mann. Nun stimmte auch diese Hierarchie nicht mehr.“ Das war gleichsam eine Einladung, weitere zuvor unfragliche Rangordnungen anzuzweifeln, zumal wenn mit der Entkolonisierung die neue Lust an der Melange der Kulturen einherging: am Einbezug und am Hybriden jenseits aller hierarchischen Einstellungen.
Der Schweizer Romancier und Essayist Hugo Loetscher zählte seit den siebziger Jahren zu den literarischen Vorboten des hybriden Denkens. Roger de Weck erläutert: „Der Weltreisende Loetscher sah in der ihm vertrauten portugisisch-lusophonen Welt die Ästhetik einer streitbaren Koexistenz und fruchtbaren Konvergenz von Kulturen: von der Semba in Angola zur Samba in Brasilien; vom Weltschmerz der einstigen Lissabonner Fado-Königin Amália Rodrigues oder heute ihrer afroeuropäischen Nachfolgerin Mariza bis zum Wehmut in der Stimme von Cesária Évora von den Kapverdischen Inseln; von Goa nach Macau.“
Die Globalisierung erregt Anstoß und gibt Anstöße
Solche Hybridität nannte der 2009 verstorbene Schriftsteller damals „Simultaneität“. Was meinte er genau? Darunter subsumierte Hugo Loetscher: „Nicht länger ein Gegensatz von Zentrum und Rand; nicht mehr Hierarchie, sondern Nebeneinander; nicht Chronologie, sondern Gleichzeitigkeit; und statt aller Ideologien zumindest Ambivalenz.“ Das war gewiss nicht als schönfärberische Schilderung des seinerzeit noch vom Westen dominierten Südens gemeint.
Roger de Weck stellt fest: „Vielmehr war es ein postkolonialer Rückblick , ein intelligenter Ausblick auf die zwiespältige Globalisierung – sie erregt Anstoß, sie gibt Anstöße.“ Hybrid findet da aufs Schönste zusammen, was nicht unbedingt zusammengehört. „Un bouillon de culture“ heißt es freudig auf Französisch, ein Ferment unterschiedlicher Kulturen. Im deutschen Sprachraum hingegen hat sich das abschätzig gewordene Wort „Multikulti“ etabliert. Quelle: „Die Kraft der Demokratie“ von Roger de Weck
Von Hans Klumbies