Als einziges Lebewesen hat der Mensch die Fähigkeit, durch seine Entdeckungen und Erfindungen die Welt zu verändern. Leonardo da Vinci hat dies wie kein anderer vorgemacht, doch sieht er diesen Drang nach Veränderung durchaus kritisch. Volker Reinhard erläutert: „Zur Krone der Schöpfung, wie es ihm die Bibel verheißt, wird der Mensch dadurch jedoch nicht. Wenn er versucht, sich die Natur untertan zu machen, wird er sogar zu ihrer Geißel.“ Selbst durch genaueste Beobachtung ihrer Gesetze kann er der Natur nur einige wenige ihrer Geheimnisse abringen und für sich nutzbar machen, etwa in der Mechanik. In seinen Notizheften hat Leonardo da Vinci mancherlei fremde Maschinen verbessert und eigene Apparaturen erfunden. Diese konnten mit den damals bekannten Energiequellen funktionieren. Volker Reinhardt ist Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Fribourg. Er gehört international zu den führenden Italien-Historikern.
Leonardo da Vinci war ein skeptischer Weltenforscher
Doch seine berühmtesten Entwürfe von Flugmaschinen sind technologische Phantasieentwürfe, weil es damals keine Antriebskräfte gab, die sie in die Lüfte erheben konnten. Volker Reinhardt stellt fest: „Oft sind sie geradezu Parodien menschlicher Selbstüberschätzung und Allmachtträume. Der sagenhafte antike Flugpionier Dädalus stürzte ab, weil er mit seinem kunstreich ersonnenen Apparat der Sonne zu nahe kam.“ Leonardo da Vincis „Helikopter-Pilot“ ist stattdessen zum Sklaven seiner eigenen Erfindung geworden. Im Gewirr der Streben und Schrauben wirkt er hoffnungslos verloren.
Eine Hymne auf den Fortschritt und die schöne neue Welt der Technik, welche die Welt beherrschen wird, sind die Zeichnungen Leonardo da Vincis also nicht. Am Ende hat nicht der Mensch, sondern die Urgewalt der Natur das letzte Wort. In seinen Zeichnungen eines alles verschlingenden Tsunamis hat Leonardo, der skeptische Welterforscher, gegen Ende seines Lebens sogar festgehalten, wie der Mensch eines Tages untergehen wird. Nämlich nicht durch das Urteil eines Gottes, sondern durch die Natur selbst.
Leonardo da Vincis Ideen weisen weit in die Zukunft
Denn die Natur folgt bei der Entfaltung ihrer unbegrenzten Zerstörungskraft ihren unveränderlichen Gesetzen. Leonardo da Vinci selbst hat die Erfahrung als Matrix seiner Ideen hervorgehoben. Volker Reinhardt erklärt: „Das zeugt von Misstrauen gegenüber den anerkannten Traditionen und weist weit voraus in die Zukunft.“ Nämlich auf einen Galileo Galilei, der durch sinnreich angelegte Versuche belegte, dass auch ein so großer Philosoph wie Aristoteles mit seiner Naturkunde irren konnte.
Zugleich spiegelt Leonardo da Vincis stolze Selbstdarstellung als erster wirklicher Erforscher der Natur einen tiefen Minderwertigkeitskomplex wider. Volker Reinhardt weiß: „Er hatte keinen Anteil an der humanistischen Kultur seiner Zeit, da ihm dafür die elementare Voraussetzung, nämlich die souveräne Beherrschung des klassischen Lateins, fehlte.“ Im fortgeschrittenen Lebensalter versuchte er dieses gravierende Manko durch Vokabellisten und Syntaxübungen wettzumachen. Doch zur Beherrschung der damals hegemonialen Bildungssprache reichte das nicht aus. Quelle: „Die Macht der Schönheit“ von Volker Reinhardt
Von Hans Klumbies