Die meisten Anthropologen waren der Überzeugung, der Übergang zu „modernen“ Verhaltensweisen habe bei unseren Vorfahren relativ spät stattgefunden. James Suzman erklärt: „Es herrschte die Ansicht vor, der frühe Homo sapiens habe bis vor rund 50.000 Jahren auf der „falschen Seite“ einer wichtigen kognitiven Entwicklungsschwelle gestanden; es haben ihm insbesondere die Fähigkeit gefehlt, sich Gedanken über die Mysterien des Lebens zu machen.“ Denn sie verehrten keine Götter und verfluchten keine bösen Geister, sie erzählten keine lustigen Geschichten und malten keine ordentlichen Bilder. Vor dem Wegdämmern in einen traumerfüllten Schlaf dachten sie nicht über die Ereignisse des verflossenen Tages nach, sangen keine Liebeslieber und drückten sich nicht mit schlauen Ausreden um die Erledigung einer Aufgabe. James Suzman ist Direktor des anthropologischen Thinktanks Anthropos und Fellow am Robinson Collage der Cambridge University.
Kulturelle Funde waren nie älter als 40.000 Jahre
In eine ähnliche Richtung wies ihre Überzeugung, unsere Vorfahren seinen bis zu dem Zeitpunkt, da der Homo sapiens diese Schwelle überschritt, geistig nicht agil genug gewesen, etwa Fertigkeiten, die sie in einem Kontext erlernt hatten, mit der Flexibilität, mit der Menschen das heute tun, in schöpferischer Weise auf andere Aufgabenstellungen zu übertragen. James Suzman ergänzt: „Sie waren, kurz gesagt, überzeugt, dass unsere Vorfahren erst in jüngerer Vergangenheit die Fähigkeit entwickelten, Arbeit mit der zweckgerichteten und bewussten Zielstrebigkeit zu verrichten, wie wir das heute tun.“
Sie glaubten davon ausgehen zu können, weil lange Zeit die ältesten eindeutigen Belege für dieses Niveau von Intelligenz – künstlerisch gelungene Felszeichnungen und Gravuren, symbolhafte Skulpturen, vielfältige Traditionen fortgeschrittener Werkzeugherstellung, elegant gestaltete Schmuckstücke und aufwändige Begräbnisrituale – nie älter als 40.000 Jahre waren. James Suzman blickt zurück: „Da der Homo sapiens um diese Zeit keine deutlich sichtbaren körperlichen Veränderungen zeigte, griffen die Anthropologen auf die Hypothese zurück, der vermutete „große Sprung vorwärts“ müsse sich vollzogen haben, als vor vielleicht 60.000 Jahren ein unsichtbarer genetischer Schalter umgelegt wurde.“
Der Homo sapiens vollzog eine „Verhaltensmodernisierung“
Als Folge habe sich bei den in Afrika lebenden menschlichen Populationen ebenso wie bei denen, die bereits den Weg nach Europa und Asien gefunden hatten, ziemlich gleichzeitig eine „Verhaltensmodernisierung“ vollzogen, vorangetrieben von ihren neu entwickelten Fähigkeiten. James Suzman fügt hinzu: „Sie seien dann sofort darangegangen, den Rest der bewohnbaren Welt zu kolonisieren, und hatten überall, wie sie hinkamen, Zeugnisse ihrer Erfindungskraft, Kreativität und Intelligenz hinterlassen.“
Das geschah solange sie nicht voll damit beschäftigt waren, lokale Wildarten auszurotten oder sich Kämpfe mit entfernt verwandten Menschenarten wie den Neandertalern zu liefern. James Suzman erläutert: „Die löcherigen Schädel von Neandertalern und anderen Frühmenschen, die in Museumsdepots und Hochschularchiven in aller Welt eingelagert sind, kümmert es nicht, was irgendwer heute über sie sagt.“ Es ist aber offenkundig problematisch, das kognitive Niveau einer Menschenkohorte hauptsächlich nach den von ihr hinterlassenen handwerklichen Produkten zu beurteilen. Quelle: „Sie nannten es Arbeit“ von James Suzman
Von Hans Klumbies