Der Alpdruck der Vergangenheit wiegt oft schwer

Eine zentrale Frage bei Karl Marx lautet: Wie wird man mit dem Alpdruck der Vergangenheit fertig? Denn kein Mensch handelt losgebunden von der Geschichte, sondern sie lastet auf ihm, er ist hineingeworfen in eine Geschichte, die er nicht gemacht hat, mit der er aber in irgendeiner Weise zurande kommen muss. Konrad Paul Liessmann erläutert: „Revolutionen hätten nach Marx auch die Aufgabe gehabt, diese Last der Vergangenheit, wenn nicht schon abzuschütteln, so doch zu minimieren und den Blick frei zu machen für das Morgen.“ Genau dazu aber wühlen die Menschen im Fundus der Vergangenheit und suchen darin nach passenden Kostümen. Die Französische Revolution verkleidet sich beispielsweise als Römische Republik. Konrad Paul Liessmann ist Professor emeritus für Philosophie an der Universität Wien, Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist.

Die Menschen haben sich in nachtaktive Wesen verwandelt

Die Befreiung von diesem Alpdruck der Vergangenheit ist aber auch eine Befreiung von der Nacht. Nämlich von der reaktionären Finsternis, von den dunklen Machenschaften der Herrschenden. Die Lichtmetapher ist deshalb für revolutionäre Bewegungen von zentraler Bedeutung. Konrad Paul Liessmann erklärt: „Weg vom Alptraum der Vergangenheit, weg vom Joch der Tradition, hin ins Licht, in die Freiheit, zur Sonne.“ Auch bei Friedrich Nietzsche ist am Ende die glühende Morgensonne das alles beschwörende Bild eines möglichen Neubeginns.

Dabei taucht allerdings der Verdacht auf, dass in diesem Morgen nur das Alte wiederkehrt. Konrad Paul Liessmann stellt fest: „Aber noch sind wir nicht so weit, noch sind wir in der tiefen Mitternacht. Nacht. Ein einsam Wachender. Und die Welt schläft. Solche exklusiven Mitternachtserfahrungen können wir kaum mehr nachvollziehen. Fast niemand schläft mehr zur Mitternacht, wir sind zu nachtaktiven Wesen geworden.“ Es ist hell, die öffentlichen Verkehrsmittel fahren, die Menschen sind unterwegs.

Das Mitternachts-Herz denkt unsagbare Dinge

Kaum jemand hat in einer modernen Metropole das Gefühl, dass um Mitternacht alles schläft und er der Einzige ist, der wacht. Was bleibt, ist mitunter eine nächtliche Einsamkeit, die keine Beleuchtungsorgien mildern. Bei Friedrich Nietzsche erhebt sich über allem ein stöhnendes „Ach! Ach! Der Hund heult.“ Auch das gehört zum romantischen Bild der Mitternacht. Die einzigen Lebewesen, die vielleicht noch wach sind, sind die Hunde, die heulen.

Dabei handelt es sich um eine Erinnerung an die bangen Zeiten, als in den Nächten die Wölfe zu hören waren. Friedrich Nietzsche schreibt: „Der Hund heult, der Mond scheint. Liber will ich sterben, sterben, als euch zu sagen, was mein Mitternachts-Herz eben denkt.“ Das Mitternachts-Herz denkt Dinge, die nicht sagbar sind und in das Tiefste, in das Unterbewussteste, auch das Erschreckendste menschlicher Existenz hineinreichen, die man nicht preisgeben will. Quelle: „Alle Lust will Ewigkeit“ von Konrad Paul Liessmann

Von Hans Klumbies

Schreibe einen Kommentar