Demagogen werfen dem Establishment Volksferne vor

Liberale Demokratien müssen sich auf neue Aufgaben einstellen. Polarisierung? Roger de Weck stellt fest: „Angesagt und vonnöten ist das diametrale Gegenteil, um den Anforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen zu sein. Polarisierende und radikalisierende Politik taugt zum Machtgewinn, sonst zu gar nichts.“ Demagogen werfen dem Establishment Volksferne vor. Doch verrät ihre Faktenferne bis hin zu Faktenfreiheit, dass ausgerechnet die vorgeblich rechte „Realpolitik“ meilenweit von der Realität entfernt ist. Auf postfaktische Weise lässt sich die Gesellschaft radikalisieren, aber kein Ziel erreichen. Und das Reiseziel der Politik heißt jetzt in jeder Hinsicht: Einbezug. Die Ökologie ist ins Gefüge der demokratischen Institutionen einzubeziehen. Das Prinzip der Nachhaltigkeit ist in den republikanischen Dreiklang Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit einzuweben. Roger de Weck ist ein Schweizer Publizist und Ökonom.

Die elegante Vorsilbe „post“ verrät die generelle Unsicherheit

Die Kosten des Verbrauchs natürlicher Ressourcen sind in die Preise einzurechnen. Diese Ressourcen, die Arbeit und das Kapital sind als ein Ganzes zu sehen. Roger de Weck erklärt: „Die Nichterwerbsarbeit ist in den Begriff und das Selbstverständnis der Arbeitsgesellschaft einzubringen. Die Bürgerinnen sind in dieser Arbeitsgesellschaft wie in der Demokratie gleichzustellen.“ Sozial Schwache sind von den Rändern wieder stärker in die Mitte der Politik zu rücken, und die Gesellschaft muss wieder die auf Dauer unhaltbaren Disparitäten ihre neue Mitte finden.

Die Migranten sind zu integrieren. Doch wer „postfaktisch“ denkt, schafft keine Fakten, schon gar nicht im Hinblick auf eine Zukunftsvorstellung. Roger de Weck ergänzt: „Die kleine, allgegenwärtige und recht elegante Vorsilbe „post“ verrät die generelle Unsicherheit: Zwar wissen wir einigermaßen, was wir im digitalen, globalen und mentalen Umschwung hinter uns lassen – oder manchmal lieber nicht hinter uns ließen. Wir haben jedoch kaum Vorstellungen von dem, was wir anstreben.“

Das Zeitalter der großen Gedankengebäude ist verstrichen

Eigenschaftswörter wie „postmodern“, „postfaktisch“, „postdemokratisch“ stehen weniger für eine Eigenschaft, sondern für das Fehlen derselben, jedenfalls für ihr Ausklingen und eine Art Schwebezustand. Roger de Weck fügt hinzu: „Sie suggerieren, dass die Modernität, die Fakten und die Demokratie scheinbar beziehungsweise ansatzweise schon Vergangenheit seien.“ Diese „Post-Adjektive“ beschreiben, was angeblich nicht mehr ist, aber nicht, was ist, und noch weniger, was sein soll.

Als Karl Marx an seinem Projekt arbeitete, nannte er es nicht etwa Postkapitalismus, sondern Kommunismus. Das Zeitalter der großen Gedankengebäude – ja der ideologischen Wolkenkratzer – ist verstrichen. Doch im 21. Jahrhundert gilt: Was noch nicht benannt ist, kann trotzdem richtungsweisend sein. Falls aber eine Bezeichnung für die anstehende Arbeit an der Liberalität und der liberalen Demokratie nötig sein sollte – warum nicht „hybride Aufklärung“? Sie umfasst die oben erwähnten Anforderungen an eine zeitgemäße Politik des Einbezugs. Quelle: „Die Kraft der Demokratie“ von Roger de Weck

Von Hans Klumbies