Dem Fremden gegenüber fehlt eine grundlegende Zugewandtheit

Den sprichwörtlich „anderen“ gegenüber fehlt gegenwärtig eine grundlegende Zugewandtheit als Voraussetzung für Nähe und Verbundenheit. Judith Kohlberger nennt Beispiele: „Das zeigt sich im Umgang mit Geflüchteten und Migranten, Marginalisierten und Minderheiten, Obdachlosen und Arbeitslosen, den Exkludierten und „Überflüssigen“ unserer Zeit.“ Das geschieht nicht nur im persönlichen Umgang und in der Sprache, sondern auch in der Verrohung von Institutionen und der schleichenden Unterwanderung des demokratischen Grundkonsenses. Die Einheimischen sind hart an der Grenze – im tatsächlichen wie auch im übertragenen Sinne. Der Fremde soll draußen bleiben. Es gibt jedoch ein Gegenmodell: Offen sein und werden für die Erfahrung, Erlebnisse und Lebensrealitäten des anderen, der dann so anders gar nicht mehr ist – diese grundlegende Zugewandtheit kann persönliche Haltung wie politische Maxime gleichermaßen sein. Judith Kohlenberger ist Kulturwissenschaftlerin und Migrationsforscherin am Institut für Sozialpolitik der WU Wien und dem Österreichischen Institut für Internationale Politik (oiip).

Die gemeinsame Geschichte bildet den Kitt für die menschliche Gemeinschaft

Judith Kohlenberger betont: „Grenzen setzen und diese gegen widerrechtliche Inbesitznahme zu verteidigen, aber anschlussfähig bleiben für das, was diese Grenzen überschreiten muss, um Nähe, Kreativität, Muße, Inspiration und Komplexität zu erhalten beziehungsweise wieder zu ermöglichen.“ Denn die gemeinsame Geschichte, die den Kitt für jegliche Form der menschlichen Gemeinschaft bildet, wird notwendigerweise immer nur durch den Austausch mit anderen Geschichten, Welten, Wissensformen, Gedanken und Sehnsüchten hervorgebracht.

Es sind diese universellen menschlichen Erfahrungen, die Individuen eine Weg aus der gesellschaftlichen Verhärtung bieten, so wie sie es denn ernst meinen mit der sozio-ökologischen Transformation, die in der Zeit der multiplen Krisen immer dringender Realität werden muss. Judith Kohlenberger fordert der neuen Härte die Stirn zu bieten, indem man an der vermeintlich unverrückbaren, unerbittlichen Grenze zum anderen Raum für Austausch, Nähe und Demokratisierung schafft.

Es gibt eine neue Dimension der Härte im Umgang miteinander

Judith Kohlenberger plädiert dafür, kleine Löcher in die Mauern der Gegenwart zu bohren, um das Neue, Fremde, Inspirierende hereinzulassen. Dann spürt man mehr, nicht weniger, wenn man wahrlich einander zugewandt bleibt. Leider hat sich etwas Verhärtet in den Ländern des Westens. Gewaltsamkeit in Wort und Tat scheint zu eskalieren. Die Menschen schotten sich voneinander ab. Ob aus Notwendigkeit, einem Schutzbedürfnis oder purer Verzweiflung heraus oder einfach aus Neid, Missgunst und persönlicher Saturiertheit, darüber lässt sich mutmaßen und trefflich streiten.

Unstrittig aber scheint eine neue Dimension der Härte im Umgang miteinander, in der öffentlichen Debatte und der politischen Auseinandersetzung, im Alltag und im persönlichen Miteinander. Judith Kohlenberger stellt fest: „Nimmt man nicht aktiv teil, so hat man sich zumindest in der Verhärtung eingerichtet, trägt sie schweigend mit. Die Risse in der Zeit der Corona-Pandemie gingen quer durch Familien und Freundeskreise und stellten sich mittlerweile als irreparabel heraus.“ Quelle: „Gegen die neue Härte“ von Judith Kohlenberger

Von Hans Klumbies