Der außengeleitete Mensch ist extrem peinlichkeitsanfällig

In den modernen Gesellschaften ist die Vielfalt kultureller Verhaltensnormen ein zwiespältiges Phänomen. Einerseits ermöglicht eine Relativierung der jeweiligen Normen, denn erst heute können Normen in größerem Umfang überhaupt als Konvention aufgefasst werden, nämlich in das eigene Belieben gestellt, andererseits führt sie gleichzeitig zu einer größeren Unsicherheit im Verhalten. Die Philosophin Hilge Landweer zieht daraus den Schluss, dass aus dieser Unsicherheit heraus, die allermeisten Menschen Strategien zur Schamvermeidung nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere praktizieren. Der Soziologe David Riesman erklärt in seinem Buch „Die einsame Masse“, wie es dazu kommt, dass Normen, obwohl als Konvention verstanden, ins eigene Belieben gestellt werden können. David Riesman stellt in seinem Werk drei verschiedenen Charaktere vor: den traditionsgeleiteten, den innengeleiteten und den außengeleiteten Typus.

In einer traditionsgeleiteten Gesellschaft dominiert das Brauchtum

In einer Gesellschaft, die von Traditionen geprägt ist, verhält sich das Individuum nach Regeln, die in stabilen überlieferten Formen festgelegt sind, wie zum Beispiel im Zeremoniell, im Brauchtum oder im Ritual. Ulrich Greiner, Präsident der Freien Akademie der Künste in Hamburg, fügt hinzu: „Solche Gesellschaften sind zumeist nach Ständen oder Klassen gegliedert, es gibt hergebrachte Autoritäten und Machtstrukturen, die der Diskussion und der Kritik weitgehend entzogen sind.“ Auf wenn solche Gesellschaften, zumindest im aufgeklärten Westen, in der Regel der Vergangenheit angehören, so sind doch traditionsgeleitete Verhaltensweisen keineswegs völlig verschwunden.

Die innengeleitete Gesellschaft dagegen dominiert die Individuen durch persönliche, verinnerlichte Werthaltungen prinzipieller Art, die dem dynamischen Wechsel der sozialen Situationen gegenüber durch ihre Abstraktheit anwendbar bleiben, wie es der Soziologe Helmut Schelsky ausdrückt. Auch diese Gesellschaftsform, die sich auf die Moral und das Gewissen ihrer Mitglieder verlassen kann, ist auch in der Gegenwart durchaus noch existent. In einer außengeleiteten Gesellschaft wird laut Helmut Schelsky die Anerkennung der anderen, das sich orientieren nach der öffentlichen Meinung und ihren Signalen, nach Kollegen, Alters- und Standesgossen und so weiter zum entscheidenden Maßstab, mit dem das Individuum seine Handlung misst und bewertet.

Die Rolle der Eltern verliert ihre angestammte Geltung

Für Ulrich Greiner besteht kein Zweifel daran, dass der außengeleitete Mensch extrem peinlichkeitsanfällig ist. David Riesman ist der gleichen Meinung: „Die Anerkennung an sich, unabhängig von dem, was anerkannt wird, ist die einzig eindeutige Erfolgsnorm.“ Daraus folgt: Gewissensentscheidungen, die mit dem Missfallen der Mitmenschen rechnen müssten, werden fallengelassen zugunsten einer Angepasstheit, die sich aus der genauen Beobachtung dessen speist, was mehrheitlich für richtig gehalten und vorgelebt wird.

Ulrich Greiner ergänzt: „Mehrheitlich bedeutet, dass das Verhalten des sozialen Umfelds, in dem man sich befindet oder in das man hineinstrebt, als maßgebend betrachtet wird. Was zugleich bedeutet, dass überlieferte Muster und Kriterien ihre Geltung verlieren.“ Das betrifft auch die Rolle der Eltern. Sie sind nicht mehr in der Lage, ihren Kindern scharf umrissene Vorstellungsinhalte vom selbstbewussten Ich und der Gesellschaft zu vermitteln. Heute können sie ihr Kind nur noch dazu anhalten, möglichst anständig zu sein, was immer auch darunter verstanden wird.

Von Hans Klumbies