Träumen ist Geschichtenerzählen in Bildern. Der Psychoanalytiker Stephen Grosz schreibt: „Ich denke, wir versuchen alle, dem Leben durch das Erzählen unserer Geschichte einen Sinn zu verleihen.“ Der deutsch-britische Psychiater und Psychoanalytiker S. H. Foulkes fügt hinzu: „Die fließende Visualisierung, wie sie in unseren Träumen geschieht, ist ein Denkprozess.“ Damit knüpft er an Sigmund Freud an, für den Träume nichts anderes als eine „besondere Form des Denkens“ sind. Sprache und Bilder sind für David Gelernter nicht einfach nur zwei verschiedene Ausdrucksmittel: „Zum Beispiel bringen wir Kindern das Sprechen und Schreiben bei, nicht aber in gleichem Maße das Zeichnen.“ Bei der Sprache geht es um Präzision, Prägnanz und Abstraktion. Bilder dagegen transportieren eine Fülle konkreter Details wie manchmal auch die Nuancen, die Gefühle und Atmosphäre ausmachen. David Gelernter ist Professor für Computerwissenschaften an der Yale University.
Bilder lassen sich zu komplexen und dennoch anschaulichen Kompositionen kombinieren
Das Sehen ist der wichtigste Sinn eines Menschen. Wenn man sich an die Vergangenheit erinnert, hat die Erinnerung in der Regel die Form von Bildern. Und auch das Träumen ist zuallererst ein Erinnern. David Gelernter ergänzt: „Bilder habe als Grundlage für Gedanken noch eine andere gute Eigenschaft. Es ist einfach und ganz selbstverständlich, sie zu komplexen, aber anschaulichen Kompositionen zu kombinieren.“ Der Körper selbst ist die eigentliche Alternative als Form der Kommunikation. Die Sprache ist das selbstverständliche Mittel der logischen Kommunikation.
Für die emotionale Verständigung eigenen sich von Natur aus die wortlose Geste, der Gesichtsausdruck, der Tonfall der Stimme und die Körperhaltung. Kinder zeigen in ihrer Entwicklung so etwas wie die hypothetische Entstehung der Logik aus Geschichten. David Gelernter erklärt: „Kinder lieben Geschichten, aber nach und nach schaffen sie auch Platz für Logik und Sachlichkeit.“ Anzeichen der gleichen Entwicklung erkennt man auch beim Erwachsenwerden von Kulturen. Die Literatur der Menschen entstand mit dem Geschichtenerzählen, und so ist es bis heute geblieben.
Rechtliche Weltanschauungen sind kultivierter als religiöse
Die wachsende Wissenschaftszentrierung in den modernen Gesellschaften des Westens ist ein grober Indikator für die immer stärker konzentrierten Denkweisen, die in einer entwickelten Kultur von Mode und Vorlieben diktiert werden. Dazu kommt die Überzeugung, dass rechtliche Weltanschauungen kultivierter sind als religiöse und sexuelle Weltanschauungen kultivierter als romantische. Die beiden Hauptgegebenheiten des menschlichen Geistes sind das Handeln und das Sein; was der Geist tut und was er ist.
Die erste Säule ist für David Gelernter das geistige Handeln – damit ist im weitesten Sinne die absichtliche Beeinflussung bewusster mentaler Zustände gemeint, das Nachdenken oder die Reflexion. Die zweite Säule, das geistige Sein, bilden Empfindungen und Gefühle, und zwar körperliche oder mentale Gefühle. Es gibt keinen Zeitpunkt, zu dem Menschen nicht fühlen. Bewusst zu sein heißt zu erleben, zu fühlen. Ob sich ein Mensch seinen Empfindungen oder Gefühlen bewusst ist oder davon völlig in Anspruch genommen ist, sie zu haben, hängt unter anderem davon ab, wie stark sie gerade sind. Quelle: „Gezeiten des Geistes“ von David Gelernter
Von Hans Klumbies