Häufig wissen andere Menschen, was eine Person denkt und fühlt, weil sie es ihnen sagt. Manchmal tut man das absichtlich, bei anderen Gelegenheiten aber auch mit Minenspiel und Körpersprache. Ludwig Wittgenstein schreibt: „Der menschliche Körper ist das beste Bild der menschlichen Seele.“ David Gelernter fügt hinzu: „Manchmal wissen andere Menschen besser, was wir fühlen, als wir selbst.“ Mit dem Verstand weiß man, wie andere Menschen sich fühlen. Was aber noch wichtiger ist: Man empfindet die Gefühle des anderen, man sympathisiert mit ihm, man hat Mitgefühl. Das Menschen die Gefühle ihrer Mitmenschen spüren können, liegt daran, dass sie selbst fühlende Wesen sind und wissen, wie sie sich fühlen, wenn sie bestimmte Dinge sagen oder auf eine bestimmte Weise blicken. David Gelernter ist Professor für Computerwissenschaften an der Yale University.
Alle Menschen tragen Geheimnisse mit sich herum
In einer Art emotionalem Widerhall können Menschen – wenn die Voraussetzungen stimmen – die Gefühle eines anderen im eigenen Körper spüren. Die meisten Menschen beschreiben sich ständig selbst und geben sich große Mühe, verstanden zu werden. Anschauliche Stereotype – Schmetterlinge im Bauch, Kloß im Hals, hüpfen vor Freude, sich zu Tode langweilen, mit Neuigkeiten herausplatzen – helfen dabei, verstanden zu werden. David Gelernter ergänzt: „Mentales Leben ist irreduzibel subjektiv, aber wir wissen auch viel über die mentalen Zustände anderer.“
Letztlich können die Kenntnisse über andere Menschen natürlich nicht über das hinausgehen, was der andere zulässt, und vollständig sind sie nie. Alle Menschen tragen Geheimnisse mit sich herum, über die sie nie gesprochen haben und über die sie niemals sprechen werden. In den meisten Fällen, so glaubt David Gelernter, nehmen sie ihre tiefsten Wahrheiten unausgesprochen mit ins Grab. Man muss mit dem Wissen, das man erwerben kann, und in der Welt wie sie ist, so gut wie möglich zurechtkommen.
Die Phänomenologie will das subjektive Erleben verstehen
Was David Gelernter über die zentrale Bedeutung des subjektiven Erlebens geschrieben hat, läuft letztlich auf eine Form der Phänomenologie hinaus – jener philosophischen Richtung, die von Edmund Husserl begründet wurde. In der Phänomenologie bemüht man sich darum, das subjektive Erleben zu verstehen. Man sucht im subjektiven Erscheinungsbild nach einer grundlegenden, objektiven Realität. Dabei geht es insbesondere um das Bewusstsein. In diesem Zusammenhang ergibt sich daraus eine einfache Botschaft. Das erste Gesetz der Psychologie: Man muss wissen, was einer Erklärung bedarf.
Solange man nicht weiß, was man erklären muss, kann man nichts erklären. Die Wissenschaft oder Philosophie der Psychologie schreibt der zeitgenössische Phänomenologe Eduard Marbach, erfordert „eine systematische, deskriptive Analyse des Bewusstseins. Und wie gelangt man zu dieser deskriptiven Analyse? Darauf antwortet sein amerikanischer Kollege Shaun Gallagher: durch „eine im Hinblick auf ihre Methoden kontrollierte reflektierende Introspektion.“ Man muss also methodisch in sich hineinblicken. Quelle: „Gezeiten des Geistes“ von David Gelernter
Von Hans Klumbies