Jeder Mensch sollte sein subjektives Erleben kennen

Eine beredte Verteidigung der Praxis der Introspektion, die so gewaltig aus der Mode gekommen ist, verfasste Ralph Waldo Emerson. Sein Ratschlag an einen jungen Autor lautet: „Wenn er in die Geheimnisse seines eigenen Geistes hinabgestiegen ist, erfährt er, dass er damit auch in die Geheimnisse aller Geister eingetaucht ist.“ Edmund Husserl und andere Phänomenologen machen eines deutlich: Die Introspektion aufzugeben heißt, gegenüber dem subjektiven Erleben die Waffen zu strecken.“ David Gelernter erläutert: „Um zu verstehen, müssen wir zunächst unser eigenes subjektives Erleben kennen. Wir müssen es auf systematische, disziplinierte Weise kennenlernen.“ Das Ziel muss transzendentale Einsicht im Sinne Edmund Husserls sein: in den kleinen, heimischen Vorfällen, die ein Mensch in seinem eigenen Geist erlebt, nicht weniger zu sehen als die Gestalt des Geistes. David Gelernter ist Professor für Computerwissenschaften an der Yale University.

Ein herausragender Autor muss ein exzellenter Psychologe sein

Denker, die sich für den Geist interessieren, haben sich häufig der Literatur zugewandt. Für die Phänomenologen ist es die Regel, für Sigmund Freud und die Psychoanalytiker noch mehr. David Gelernter erklärt seine besondere Vorliebe für die fiktionale Literatur wie folgt: „Ein herausragender Autor von Romanen oder Kurzgeschichten muss ein exzellenter Psychologe sein und geradewegs in die Tiefen des menschlichen Charakters blicken.“ Außerdem erwartet David Gelernter von herausragenden Romanschriftstellern, dass sie ihn dorthin führen, wo ihn kein anderer hinbegleiten kann; in die subjektive Realität des menschlichen Geistes.

Darüber hinaus gibt es für Informationen über den subjektiven Geist eine weitere ergiebige Quelle: die Sprache, die man spricht. Ihr zuzuhören ist für eine neue subjektivistische Methodik von entscheidender Bedeutung. Es geht dabei nicht um das Zuhören im Sinne der analytischen oder linguistischen Philosophie. Das Zuhören, das David Gelernter meint, versteht Sprache als extrem konzentrierte, 180-prozentig destillierte, in Jahrhunderten gereifte Essenz der Gedanken und Erkenntnisse des gesunden Menschenverstandes über den Geist.

Vernünftiges Denken erfordert geistige Fokussierung und Konzentration

David Gelernter erklärt: „Sprache ist unser Handbuch für Allgemeinwissen und den gesunden Menschenverstand. Sie ist Wissen, das weit über das Konzentrat jeder reinen Enzyklopädie hinaus zu Worten, Redewendungen, Sprechweisen destilliert wurde.“ „Fühlen“ ist gleichbedeutend für „Emotion“. Der Geist kann wandern, tagträumen oder abschweifen. Menschen können sich vergessen, konzentrieren, zusammenreißen. Sie können die Welt durch eine rosarote Brille oder im Gegenteil rot sehen.

In der Sprache werden ungeheuer wertvolle Informationen über den geistigen Zustand eines Menschen eingefangen. Im Vergleich zur Intelligenz der menschlichen Sprache ist ein „intelligentes Smartphone“ nur ein intelligenter Stein auf einem Schotterhaufen. Vernunft oder Logik sind für David Gelernter Wege, um Gedanken zusammenzustellen, welche die Kluft zwischen Hier und Dort, wo man hinwill, überbrücken. Vernünftiges Denken erfordert geistige Fokussierung, Konzentration und die Fähigkeit, diese aufzubringen. Quelle: „Gezeiten des Geistes“ von David Gelernter

Von Hans Klumbies