Nur der menschliche Geist kann gänzlich Neues schaffen

Es ist nur eine Frage der Zeit, bis künstliche Intelligenz auch das menschliche Bewusstsein überformt – so das Credo der Naturwissenschaften. Doch David Gelernter, der „Rockstar der Computerwissenschaften“ so die New York Times, stellt in seinem neuen Buch „Gezeiten des Geistes“ dieser pessimistischen Annahme die Vielgestaltigkeit, Einzigartigkeit und Freiheit des menschlichen Geistes entgegen. Kreativität und die Fähigkeit zur Introspektion sind nur dem Menschen gegeben. Das zeigen beispielsweise die literarischen Werke von William Shakespeare, Homer und Marcel Proust. Die Erkenntnisse von René Descartes, John Searle und Sigmund Freud haben im digitalen Zeitalter eine größere Bedeutung denn je. In einer interdisziplinären Analyse zeigt David Gelernter, was das menschliche Bewusstsein auszeichnet und worauf es für den Menschen in Zukunft wirklich ankommen wird. David Gelernter ist Professor für Computerwissenschaften an der Yale Universität.

Kein Computerprogramm kommt dem menschlichen Bewusstsein je gleich

Wenn man verstehen will, wie der menschliche Geist funktioniert, muss man nicht in die Labore der Neurologen und Technologen schauen, sondern in die Schreibzimmer der großen Literaten. Das Spektrum des menschlichen Bewusstseins ist so schöpferisch und einzigartig, dass kein Computerprogramm dem je gleichkäme. Der menschliche Geist kann sich von Regeln frei machen und gänzlich Neues schaffen. In seinem Buch „Gezeiten des Geistes“ lotet David Gelernter das Spektrum des Bewusstseins aus und gibt seinen Lesern ein neues Verständnis davon, was das Wesen des Menschen ausmacht.

Die Erforschung des Geistes des Menschen hat etwas Seltsames an sich. Der Geist verlangt nach einer Erklärung, aber die Leute, die sich mit Computer beschäftigen, setzen ihn als selbstverständlich voraus und bemerken kaum, wie eigenartig er ist. So behauptet beispielsweise die Computertheorie des Geistes, das Gehirn sei ein Computer und der Geist schlicht die Software, die auf der Hardware des Gehirns läuft. Das wäre eine wunderbar eingängige Erklärung, wenn sie sich als wahr erweisen würde.

Computer können keine Subjektivität herstellen

Im Vorwort seines Buches „Gezeiten des Geistes“ stellt David Gelernter etwas Allgemeines klar: „Ein Informatiker, der sich mit dem menschlichen Geist beschäftigt, muss über Philosophie diskutieren; ein Philosoph des Geistes muss über Informatik diskutieren.“ Die Verwischung der Grenzen zwischen Informatik und Philosophie des Geistes macht vollkommen Sinn. Denn Denken – rationales oder vernünftiges Denken – heißt rechnen, und Rechnen bedeutet, dass man irgendwelche Regeln befolgt oder aufstellt.

In seinem Buch „Gezeiten des Geistes“ verfolgt David Gelernter eine Ansatz, der sich radikal von der Computertheorie des Geistes unterscheidet und weit von den scheinbar dafürsprechenden Argumenten entfernt ist. David Gelernter zitiert den amerikanischen Philosophen Thomas Nagel, der nicht glaubt, dass Computer in der Lage sind, Subjektivität herzustellen: eigene persönliche Erfahrungen, ein eigenes Seelenleben, eine eigene private geistige Landschaft – die Welt im Kopf eines Menschen, durch die niemand anderes wandern kann, die nie jemand anders sehen, kennenlernen oder auf irgendeine Weise unmittelbar erleben kann. Computer sind nicht in der Lage, ein Bewusstsein zu erzeugen. Wissenschaftler verstehen das menschliche Bewusstsein nicht nur heute nicht, sondern es gibt auch keinen Grund zu der Annahme, dass sie es irgendwann einmal verstehen werden.

Gezeiten des Geistes
Die Vermessung unseres Bewusstseins
David Gelernter
Verlag: Ullstein
Gebundene Ausgabe: 391 Seiten, Auflage: 2016
ISBN: 978-3-550-08049-4, 22,00 Euro

Von Hans Klumbies