Mäßigung hat nichts mit Gleichmut zu tun

Mäßigung ist eine vielfach missverstandene Tugend. Zunächst einmal stellt David Brooks klar, was sie nicht ist: „Mäßigung besteht nicht einfach darin, die Mitte zwischen zwei entgegengesetzten Polen zu finden und sich opportunistisch dort aufzustellen. Und Mäßigung ist auch nicht zu verwechseln mit mildem Gleichmut.“ Sie ist auch nicht gleichbedeutend mit einem gezügelten Temperament, das rivalisierende Leidenschaften oder konkurrierende Gedanken überwunden hätte. Im Gegenteil, Mäßigung basiert auf dem Wissen, dass Konflikte unvermeidlich sind. Wenn man glaubt, die Welt füge sich nahtlos zusammen, benötigt man keine Mäßigung. Wenn man glaubt, alle persönlichen Eigenschaften ließen sich auf einfache Weise miteinander in Einklang bringen, dann muss man sich nicht bremsen. David Brooks arbeitet als Kommentator und Kolumnist bei der New York Times. Sein Buch „Das soziale Tier“ (2012) wurde ein internationaler Bestseller.

Die Persönlichkeit ist ein Schlachtfeld unvereinbarer Wesenszüge

David Brooks fügt hinzu: „Wenn man glaubt, alle moralischen Werte zeigen in dieselbe Richtung oder alle politischen Ziele ließen sich gleichzeitig verwirklichen, indem man stur immer geradeaus gehe, benötigt man ebenfalls keine Mäßigung.“ Man kann dann einfach auf dem schnellsten Weg auf die Wahrheit zusteuern. Mäßigung geht von der Vorstellung aus, dass sich Dinge nicht nahtlos zusammenfügen. Politik ist zum Beispiel ein Wettstreit zwischen legitimen, gegenläufigen Interessen. Der philosophische Diskurs ist geprägt von dem Spannungsverhältnis zwischen konkurrierenden Halbwahrheiten.

Die Persönlichkeit ist ein Schlachtfeld nützlicher, aber miteinander unvereinbarer Wesenszüge. Der amerikanische Politikwissenschaftler Harry Clor hat diesen Tatbestand wie folgt ausgedrückt: „Die grundlegende Spaltung unserer Seele beziehungsweise Psyche ist die eigentlich Ursache der Notwendigkeit, uns zu mäßigen.“ Der maßvolle Mensch birgt widerstrebende Fähigkeiten n-ten Grades in sich. Der Maßvolle kann zunächst an beiden Polen von ungezügelter Leidenschaft sein: beispielsweise von glühender Zornmütigkeit und von glühendem Ordnungsstreben.

Kein Mensch kann ein vollkommenes Leben führen

David Brooks erklärt: „Ein maßvoller Mensch mag diese Spaltungen und rivalisierenden Tendenzen zunächst in sich tragen, aber wenn er ein in sich stimmiges, widerspruchsfreies Leben führen will, muss er eine Reihe von Gegengewichten und letztlich ein Gleichmaß finden.“ Der Gemäßigte sucht ständig eine Reihe vorübergehender Vorkehrungen, die in die spezifische Situation des Augenblicks ein gebettet sind und die ihm helfen, einen Mittelweg zwischen dem Wunsch nach Sicherheit und dem Wunsch nach Risiko, dem Ruf nach Freiheit und der Notwendigkeit der Selbstbeschränkung zu finden.

Der maßvolle Mensch weiß, dass diese Spannungsverhältnisse niemals abschließend überwunden werden können. Bedeutende Angelegenheiten lassen sich nicht dadurch lösen, dass man nur ein Prinzip oder einen Gesichtspunkt berücksichtigt. Harry Clor weist darauf hin, dass der Maßvolle weiß, dass er nicht alles haben kann: „Es gibt Spannungen zwischen rivalisierenden Gütern, und wir müssen uns einfach damit abfinden, dass wir kein reines und vollkommenes Leben führen können, das nur einer Wahrheit oder einem Wert gewidmet ist.“ Quelle: „Charakter“ von David Brooks

Von Hans Klumbies