Das Leben nimmt den Menschen in die Pflicht

Im Zeitalter der individuellen Autonomie organisieren viele Menschen ihr Leben nach folgender Weise. Es ist eine Methode, die mit dem Selbst beginnt – der Selbsterforschung –, und mit dem Selbst endet – der Selbsterfüllung. David Brooks erklärt: „Es ist ein Leben, dass durch eine Reihe individueller Wahlentscheidungen bestimmt wird.“ Nach einer anderen Sichtweise ist ein Mensch nicht der Schöpfer seines Lebens, vielmehr nimmt ihn das Leben selbst in die Pflicht. Die wichtigsten Antworten findet man dann nicht in sich selbst, sondern um sich herum. Diese Perspektive setzt nicht im Innern des autonomen Selbst an, sondern bei den konkreten Umständen, in die man zufällig eingebettet ist. David Brooks arbeitet als Kommentator und Kolumnist bei der New York Times. Sein Buch „Das soziale Tier“ (2012) wurde ein internationaler Bestseller.

Das Leben stellt täglich und stündlich Fragen

David Brooks erläutert: „Diese Perspektive beginnt mit der Einsicht, dass die Welt lange vor uns existiert hat und noch lange nach uns bestehen wird, und dass wir in der kurzen Spanne unseres Lebens durch das Schicksal, durch die Geschichte, durch den Zufall, durch die Evolution oder durch Gott an einen bestimmten Ort mit bestimmten Problemen und Bedürfnissen verschlagen wurden.“ Der Psychiater Viktor Frankl schreibt: „Wir müssen lernen, dass es eigentlich nie und nimmer darauf ankommt, was wir vom Leben noch zu erwarten haben, vielmehr lediglich darauf: was das Leben von uns erwartet.“

Nach Viktor Frankl soll ein Mensch nicht mehr einfach nach dem Sinn des Lebens fragen, sondern sich selbst als Befragten erleben, als denjenigen, an den das Leben täglich und stündlich Fragen stellt. Viktor Frankls Fazit lautet: „Das Leben heißt letztlich eben nichts anderes als: Verantwortung tragen für die rechte Beantwortung der Lebensfragen, für die Erfüllung der Aufgaben, die jedem Einzelnen das Leben stellt.“ Alle Menschen haben Talente, Fähigkeiten, Anlagen, Begabungen und Charakterzüge, die sie sich nicht im strengen Sinne angeeignet haben.

Eine Berufung ist eine innere Aufforderung

Und alle Menschen finden sich immer wieder in Situationen, die sie zum Handeln auffordern, egal, ob es dabei um Armut, Leid, die Bedürfnisse einer Familie oder die Möglichkeit geht, eine Nachricht zu übermitteln. Diese Umstände geben den Menschen ein ums andere Mal die große Chance, ihre Gaben zu untermauern. Ob sie ihre Bestimmung erkennen, hängt davon ab, wie gut ihre Augen sehen und ihre Ohren hören – ob sie so empfindlich sind, dass sie die Aufgabe, die eine Situation erfordert, verstehen.

Eine Berufung ist keine berufliche Karriere. Einer Person, die sich für einen bestimmten Beruf entscheidet, geht es um Erwerbschancen und Aufstiegsmöglichkeiten. Einer Person geht es bei der Berufswahl um finanzielle Sicherheit und innere Zufriedenheit. Wenn sich ein Mensch an seinem Arbeitsplatz oder in seinem Beruf nicht wohlfühlt, dann wechselt er die Stelle oder wählt eine andere Laufbahn. Seine Berufung dagegen wählt eine Person nicht. Eine Berufung ist eine Art innerer Aufforderung. Erst wenn man diesem inneren Ruf Folge leistet, hat man das Gefühl mit sich selbst in Einklang zu sein. Quelle: „Charakter“ von David Brooks

Von Hans Klumbies