Ein Leidender stößt in unbekannte Tiefen vor

Wenn die meisten Menschen an die Zukunft denken, wünschen sie sich einen Zustand stabiler Zufriedenheit im Leben. Aber es gibt ein interessantes Phänomen. Wenn sich Menschen an die entscheidenden Ereignisse erinnern, die ihre Persönlichkeit formten, sind dies in der Regel keine „Glücksmomente“. David Brooks erklärt: „Am prägendsten scheinen vielmehr die leidvollen Erfahrungen zu sein. Die meisten Menschen greifen nach dem Glück, haben aber das Gefühl durch Leiden geformt zu werden.“ Für die meisten Menschen ist Leiden nichts an sich Wertvolles oder Edles. So, wie Scheitern manchmal einfach nur Scheitern ist, so ist Leiden manchmal nur zerstörerisch und sollte so schnell wie möglich beendet oder therapeutisch behandelt werden. David Brooks arbeitet als Kommentator und Kolumnist bei der New York Times. Sein Buch „Das soziale Tier“ (2012) wurde ein internationaler Bestseller.

Leiden kann eine neue Perspektive auf die Welt eröffnen

Wenn es nicht mit einem höheren Zweck verbunden ist, lässt Leiden die Seele verkümmern und zerstört den Menschen. Wenn es nicht als Teil eines umfassenden Prozesses verstanden wird, führt es zu Zweifel, Nihilismus und Hoffnungslosigkeit. Aber einige Menschen können ihr Leiden in einen größeren Zusammenhang stellen. Sie erleben dadurch eine enge Verbundenheit und Solidarität mit allen anderen Leidenden. Diese Menschen werden dadurch gewissermaßen geadelt. Mithin kommt es nicht auf das Leiden an sich an, sondern auf die Art und Weise, wie es erlebt wird.

David Brooks erklärt: „Körperliches oder soziales Leiden kann Menschen eine völlig neue Perspektive auf die Welt eröffnen und sie plötzlich in aller Klarheit erkennen und spüren lassen, was andere durchmachen.“ Leiden hat zunächst einmal den wichtigen Effekt, einen Menschen tiefer in sich selbst hineinzuziehen. Der Theologe Paul Tillich schrieb, dass leidende Menschen aus der Routine des Alltagslebens herausgerissen werden und erkennen, dass sie nicht diejenigen sind, die sie zu sein glaubten.

Leiden erzeugt einen „depressiven Realismus“

Der leidende Mensch stößt in unbekannte Tiefen vor. Leiden legt alte, verborgene Verletzungen frei. Es deckt Furcht erregende Erfahrungen auf, die verdrängt wurden, begangenes schändliches Unrecht. Es spornt einige Menschen dazu an, die Mühe auf sich zu nehmen, das Untergeschoss ihrer Seele gründlich zu erkunden. Aber es schenkt auch das angenehme Gefühl, der Wahrheit näher zu kommen. Der Lohn des Leidens ist die Freude darüber, unter die Oberfläche zu dringen und sich dem Grund zu nähern.

Leiden erzeugt das, was moderne Psychologen „depressiven Realismus“ nennen, die Fähigkeit, Dinge so zu sehen, wie sie sind. Es zerschmettert die tröstlichen Rationalisierungen und abgedroschene Erzählungen, die ein Mensch über sich selbst erzählt in dem Bemühen, sich anderen Menschen in einfacher Weise verständlich zu machen. Außerdem vermittelt das Leiden ein besseres Gespür für die menschlichen Grenzen, für das, was ein Mensch kontrollieren kann, beziehungsweise das, was nicht in unserer Hand liegt. Quelle: „Charakter“ von David Brooks

Von Hans Klumbies