Finanz-, Corona-, Flüchtlings-, Klima- … – was folgt, ist die „Krise“. Was haben die Krisen der Gegenwart gemeinsam? Maren Urner erklärt: „Wir haben das Gefühl, ständig abwägen zu müssen. In der Finanzkrise des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends ging es um die vermeintliche Entscheidung zwischen Systemeinbruch und Bankenrettung.“ Der viel zitierte Slogan „Too big to fail“ – also zu große und zu wichtig, um zu scheitern, steht sinnbildlich für eben diese Diskussion um Bankenrettungen und Menschen, die alles verloren haben. Während also die einen mit Pappkarton unterm Arm, aber mit einem gemütlichen Polster auf dem Konto ihre Büros in London, New York und Frankfurt räumen, landen andere auf der Straße. Dr. Maren Urner ist Professorin für Medienpsychologie an der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft (HMKW) in Köln.
Das Auge entdeckt immer mehr Dichotomien
In der Flüchtlingskrise wurde sogar lautstark darüber diskutiert, wie man Menschenleben gegen wirtschaftliche Folgen, Sicherheit und Fragen der Integration abwägen will. Maren Urner ergänzt: „In der Coronakrise müssen wir uns angeblich zwischen Wirtschaft und Gesundheit entscheiden. Letzteres schließt in vielen Fällen die Frage nach Leben und Tod mit ein.“ Auf philosophisch angehauchter Ebene wird in Talkshows und Debattenbeiträgen der Balanceakt zwischen Freiheit und Sicherheit thematisiert.
Maren Urner stellt fest: „Für die Klimakrise gilt Ähnliches, wenn darüber gestritten wird, ob das Rindersteak verboten gehört oder ein Tempolimit eingeführt werden sollte, und wenn immer wieder diskutiert wird, ob wir uns Nachhaltigkeit und Klimaschutz leisten können.“ Dichotomien, so weit das Auge reicht – ständig soll man sich zwischen Extremen entscheiden. Warum das gelinde gesagt Quatsch ist, beruht ähnlich wie bei den drei Irrungen mit Blick auf die „wissenschaftliche Krise“ auf veralteten Denkweisen.
Die Nachfrage bestimmt vielerorts nicht mehr das Angebot
In diesem Fall spricht Maren Urner statt von Irrungen lieber von Missverständnissen, die das Weltbild der Menschen und damit auch ihre gesellschaftlichen Debatten prägen. Auf dem Höhepunkt der ersten Welle der Corona-Pandemie war es einfacher, eine Michelin-Stern-Mahlzeit an die Haustür geliefert zu bekommen als angemessene Schutzkleidung in einem Krankenhaus der staatlichen Gesundheitsversorgung in Großbritannien – NHS. Maren Urner kritisiert: „In der Summe führt das dazu, dass die essenziellen Dinge, die wir Menschen zum Leben wirklich brauchen, vielen Menschen vorenthalten werden, während Unnötiges jederzeit lieferbar ist.“
Die urökonomische Idee der Nachfrage, die das Angebot bestimmt, ist vielerorts auf den Kopf gestellt, und es wird ein Angebot geschaffen, um eine Nachfrage zu generieren. Maren Urner weiß: „Einer der Nebeneffekte dieser Entwicklung sorgt dafür, dass einige wenige sehr viel Wohlstand anhäufen und diesen auch in Krisenzeiten weiter ausbauen.“ Während der ersten Monate der Corona-Pandemie wuchs das Vermögen der US-Milliardäre schätzungsweise um 637 Milliarden US-Dollar. Quelle: „Raus aus der ewigen Dauerkrise“ von Maren Urner
Von Hans Klumbies