Wir leben in einer Zeit zahlloser Gräueltaten und sinnlosen Sterbens, weshalb eine der großen ethischen und politischen Fragen heute lautet: Mit welchen Repräsentationsformen lässt sich diese Gewalt fassen? Judith Butler erklärt: „Für manche sind globale und regionale Behörden gehalten, verletzliche Gruppen zu identifizieren und zu schützen. Ich bin nicht gegen die zunehmende Feststellung von Gefährdungslagen in sogenannten Vulnerability Papers, die einer großen Zahl von Migranten Grenzübertritte ermöglichen, aber ich frage mich, ob man mit diesem Diskurs- und Machtinstrument wirklich zum Kern des Problems vorstößt.“ Die Kritik, nach der die Diskussion über „gefährdete Gruppen“ paternalistische Macht nur reproduziert und Behörden mit ihren eigenen Interessen und Einschränkungen Entscheidungsbefugnisse überträgt, ist inzwischen weithin bekannt. Judith Butler ist Maxine Elliot Professor für Komparatistik und kritische Theorie an der University of California, Berkeley.
Keiner sollte ein Heiliger werden wollen
Zugleich ist Judith Butler bewusst, dass viele Vertreter des Gefährdungsansatzes sich in ihrer empirischen und theoretischen Arbeit mit ebendiesem Problem beschäftigt haben. So wichtig die Beschäftigung mit Gefährdungen und Schutzmaßnahmen ist, scheint doch klar, dass weder Gefährdung noch Fürsorge die Basis einer Politik bilden können. Gewiss wäre ich gern ein besserer Mensch und würde mich darum bemühen, indem ich mir unter anderem meine offensichtlich unaufhörliche Fehlbarkeit vor Augen führe.
Judith Butler warnt: „Aber keiner von uns sollte ein Heiliger sein wollen, wenn das bedeutet, uns selbst alles Gute vorzuenthalten und die fragwürdige oder destruktive Dimension der menschlichen Psyche äußeren Akteuren zuzuschieben, die nichts mit uns zu tun haben und von denen wir uns abgrenzen.“ Einfach und effizient wäre es, Gefährdungen zur Grundlage für eine neue Politik zu machen, obwohl sie als Zustand von anderen Bedingungen nicht isolierbar ist und auch nicht als Grundlage dienen kann.
Die Zahl der Staatenlosen beträgt rund zehn Millionen Menschen
Es geht Judith Butlers Ansicht nicht darum, bestimmte Geschöpfe unter dem Banner der Gefährdung zu versammeln oder bestimmte Gruppen von Menschen unter dem Primärmerkmal der Gefährdung zusammenzufassen. In der Menschenrechtsarbeit umfasst die Kategorie der „gefährdeten Bevölkerungsgruppen“ alle, die des Schutzes und der Fürsorge bedürfen. Natürlich ist es wichtig, ein öffentliches Bewusstsein für die Lage von Menschen zu schaffen, denen es an grundsätzlichen Dingen wie Nahrung und Unterkunft mangelt.
Aber erinnert werden muss auch an diejenigen, denen Bewegungsfreiheit und Staatsbürgerrechte verweigert werden und die im selben Zug sogar kriminalisiert werden. Judith Butler stellt fest: „Tatsächlich werden immer mehr Flüchtlinge von immer mehr Staaten und Staatengemeinschaften sich selbst überlassen, unter anderem natürlich auch von der Europäischen Union (EU).“ Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen schätzt die derzeitige Zahl der Staatenlosen auf annähernd zehn Millionen Menschen. Quelle: „Die Macht der Gewaltlosigkeit“ von Judith Butler
Von Hans Klumbies
