Das Selbst existiert nur in sozialen Verhältnissen

Zuerst sind Menschen Wesen mit einem bestimmten Körper, „etwas zum Leben“, wie von Samuel Beckett gesagt worden ist. Oder sollte Michael Hampe sagen: „Wir sind in einen lebendigen Körper geraten. Aber wer könnte es sein, der da in den Körper gerät?“ Soll man ein Individuum, ein Selbst annehmen, das „vor“ dem Körper, „vor“ den sozialen Verhältnissen existierte? Michael Hampe wüsste nicht, wie eine solche Annahme gestützt werden könnte. Denn alles Reden von „vor“ und „nach“ und von „existieren“ und „nicht existieren“ setzt ja schon irgendeine Sprache mit ihren Unterscheidungen voraus. Und die Sprache haben Menschen nur in dieser Gemeinschaft der Redenden mit den anderen, in die man nur eintreten kann, weil man einen Körper hat wie die anderen auch, einen anderen Körper zwar, aber doch einen ähnlichen. Michael Hampe ist seit 2003 Professor für Philosophie an der ETH Zürich.

Menschen müssen sich an die Regeln des Sprechens gewöhnen

Menschen sind Wesen, die nach bestimmten Regeln funktionieren müssen, Regeln, an die sie sich gewöhnen und nach denen sie durchzuhalten haben, jedenfalls so lange, wie ihnen in der Rede nicht die Möglichkeit erscheint, all das zu beenden. Michael Hampe stellt fest: „Es scheint die „Freiheit“ geben zu können, nicht mehr den Zwecken des Körpers zu folgen, zum Beispiel nicht mehr zu essen oder auf andere Art und Weise die Funktionsweisen des Körpers zu unterbrechen, abzubrechen, nicht mehr durchzuhalten.“

Bisher erschien es Michael Hampe immer voreilig, jetzt zu versuchen, mit dem Durchhalten aufzuhören. Aber vielleicht ändert sich das. Aber zuerst werden Menschen nach einer mehr oder weniger gelingenden Gewöhnung an ihren Körper und seine Grenzen und Funktionsweisen zu sprechenden Wesen unter den anderen Sprechenden. Die Rede setzt sich in ihnen fest, wie ein Pilz, der sich an einem Baum festsetzt. Und dann müssen sich Menschen an die Regeln des Sprechens gewöhnen.

Menschen werden abgerichtet

Denn sie verbinden Menschen mit ihren Mitmenschen, sodass sie sich mit den Regeln des Sprechens auch gleich an diese anderen Sprechenden gewöhnen. Michael Hampe ergänzt: „Außer als Körper sind die anderen mit uns als Sprechende verbunden. Wie schön ist es, sich sprachlos mit jemand anderen zu verbinden. Mit der Sprache versuchen die anderen unter anderem, die Impulse zu regulieren, die in unserem Körper aufsteigen. Wir dürfen nicht immer, so signalisieren sie uns, schreien, essen, und entleeren, gewalttätig auf andere losgehen, Sex haben.“

Das sind die Bewertungen, für die Menschen sich nicht entscheiden, sondern an die sie sich ebenfalls gewöhnen müssen, wenn sie sich an die Rede gewöhnen. Menschen werden abgerichtet – ein hartes Wort. Michael Hampe fügt hinzu: „Auch wenn die anderen uns mögen, uns als Vater und Mutter lieben, sie richten uns ab, mit ihrer Liebe und ihren Ermahnungen. Denn auch sie sind ja vom Pilz der Rede befallen, müssen ihn weitergeben.“ Manchmal, später, können Menschen die Rede als eine Art Musik nehmen, als schönes Muster und können vergessen was sie mit ihnen macht. Quelle: „Wozu?“ von Michael Hampe

Von Hans Klumbies