Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war Europa zerrissener und zugleich sehnsüchtiger nach Zusammengehörigkeit denn je. Die Situation war dabei extrem angespannt und bis zu einem gewissen Grade widersprüchlich. Jürgen Wertheimer erläutert: „Wenn ein Kollektiv im Begriff ist, sich als Nation – oder wie in Frankreich als Republik – eben erst selbst zu entdecken, ist es notwendigerweise eher an mentaler Abgrenzung interessiert als am Entdecken von Gemeinsamkeiten.“ Das mythische Vaterland, „la patria, la patrie“, erlangte im Kontrast zum transkulturellen, frei flottierenden Kosmopolitismus der Aristokratie eine bis dahin unbekannte Bedeutung. Die fatale Formel von „Blut und Boden“ geht auf Umwegen zumindest motivisch auf das Ideenarsenal der bürgerlichen Revolution und der Nationenbildung zurück. Jürgen Wertheimer ist seit 1991 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen.
Europas patriotische Todesweisen ähneln sich
„Damit unreines Blut unsere Furchen tränke“, solle man die feindlichen Invasoren bekämpfen, so heißt es in der hochgerühmten „Marseillaise“. Gut eineinhalb Jahrzehnte später verklärt man in den „Vaterländischen Gesängen“ eines Theodor Körner (1791 – 1813) noch immer die mittlerweile in die Jahre gekommenen Topoi von Boden, Blut und Tod. Zudem bringt man sie mehr und mehr mit der Utopie eines vagen Freiheitsgefühls in Verbindung. Selbst Friedrich Hölderlin konnte sich dem Sog des Zeitgefühls nicht entziehen.
Jürgen Wertheimer stellt fest: „Europas patriotische Todesweisen sind zwar jeweils auf ein Land bezogen – selbst wo es dieses als konkreten politischen Körper noch gar nicht gibt –, weisen aber im Ganzen gesehen eine frappierende Ähnlichkeit auf.“ Von Serbiens Amselfeld bis zur Schlacht bei Lützow, von Leopardis „Canti“ bis zu den „Hymnen“ Victor Hugos – überall findet sich die geradezu stereotype Kopplung von Opfer, Märtyrer, Vaterland, Blut. Die einzige Internationale, so scheint es auf den ersten Blick, ist eine Internationale des heroischen Todes.
Selbst Napoleon bewunderte Goethes Roman „Werther“
Der Ursprung dieses Opferrituals liegt nicht im öffentlichen Raum, sondern im Privaten, Individuellen. Jürgen Wertheimer weiß: „Der nahezu zeremonielle Freitod des Protagonisten in Goethes „Werther“ wirkt wie ein Signal des Protests gegen verkrustete Systeme. Die Tat des Einzelnen wird zum Impuls für Hunderte, Tausende von Nachahmern, die sich mit dieser radikalen Geste der Verweigerung identifizieren.“ Einem tiefgreifenden Unbehagen, das dem vertrockneten Vernunftglauben, der elitären Ständegesellschaft, dem ganzen „System“ gilt.
Auch die Aufklärung gerät in den Focus des Protests. Sie sei rationalistisch, haben keine Menschen, keine lebendigen Individuen, sondern Vernunft-Automaten produziert, so glauben viele. Werther ist einer davon. Er scheitert am flachen Rationalismus seiner Umgebung und verlässt die bürgerliche Szene mit Stil und unter Protest. Ein Protest, der den man europaweit hört. Selbst Napoleon kann dem Roman seine Bewunderung nicht versagen. Quelle: „Europa“ von Jürgen Wertheimer
Von Hans Klumbies