Der kulturelle Kapitalismus ersetzt den industriellen

In der Gesellschaft der Gegenwart wird nicht mehr das Allgemeine, sondern das Besondere erwartet. Andreas Reckwitz erläutert: „Nicht an das Standardisierte und Regulierte heften sich die Hoffnungen, das Interesse und die Anstrengungen von Institutionen und Individuen, sondern an das Einzigartige, das Singuläre.“ Diese Entwicklung hat die gesamte spätmoderne Ökonomie erfasst. Sowohl für materielle Güter wie für Dienstleistungen gilt, dass an die Stelle der Massenproduktion uniformer Waren jene Ereignisse und Dinge treten, die nicht für alle gleich oder identisch sind, sondern einzigartig, das heißt singulär sein wollen. Die spätmoderne Ökologie ist mehr und mehr an singulären Dingen, Diensten und Ereignissen ausgerichtet, und die Güter, die sie produziert, sind zunehmend solche, die nicht mehr rein funktional, sondern auch oder allein kulturell konnotiert sind und affektive Anziehungskraft ausüben. Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt / Oder.

Arbeitnehmer müssen ein außergewöhnliches Profil entwickeln

Andreas Reckwitz vertritt folgende These: „Wir leben nicht mehr im industriellen, sondern im kulturellen Kapitalismus.“ Das hat auch tiefgreifende Folgen für die Arbeits- und Berufswelt: Standen in der alten Industriegesellschaft eindeutige formale Qualifikationen und Leistungsanforderungen im Vordergrund, so geht es in der neuen Wissens- und Kulturökonomie darum, dass die Arbeiter und Angestellten ein außergewöhnliches „Profil“ entwickeln. Belohnt werden nun jene, die Außerordentliches leisten oder zu leisten versprechen, das den Durchschnitt hinter sich lässt, während Arbeitnehmer mit profanen Routinetätigkeiten das Nachsehen haben.

Die Ökonomie hat für Andreas Reckwitz ohne Zweifel eine gesellschaftliche Schrittmacherfunktion, aber die Umdeklinierung vom Allgmeinen zum Besonderen findet längst auch in anderen Bereichen statt, etwa in der Bildung. Für Schulen genügt es beispielsweise nicht mehr wie noch vor 20 Jahren, das staatlich vorgegebene Lernpensum gut zu vermitteln. Jede Schule muss und will anders sein, muss und will ihr eigenes Bildungsprofil kultivieren und den Schülern die Möglichkeit bieten, sich einen eigenen Bildungsweg zusammenzustellen.

Der spätmoderne Mensch strebt nach Befriedigung im Besonderen

Und auch das einzelne Kind wird von Seiten der Eltern – zumindest wenn sie aus der neuen, akademisch gebildeten Mittelklasse stammen – als ein Mensch wahrgenommen, dessen besondere Begabungen und Eigenschaften zu fördern sind. Ein weiteres Feld, auf dem Andreas Reckwitz den Vormarsch des Singulären seit geraumer Zeit beobachtet, ist die Architektur. Dahinter verbirgt sich eine grundsätzliche Transformation räumlicher Strukturen: An die Stelle der austauschbaren Räume der klassischen Moderne sollen in der globalisierten und urbanisierten Spätmoderne nun wiedererkennbare einzelne Orte mit je eigener Atmosphäre treten.

Andreas Reckwitz erklärt: „Städte und Metropolen bemühen sich entsprechend, auch im Namen der sogenannten „cultural regeneration“, eine lokale Eigenlogik zu entwickeln, die Lebensqualität und Alleinstellungsmerkmale verspricht.“ Und die neue Mittelklasse zieht es bevorzugt in diese Schwarmstädte, während die anderen, als unattraktiv geltenden Regionen Gefahr laufen zu veröden. Es ist für Andreas Reckwitz nicht verwunderlich, dass vor diesem Hintergrund auch und gerade der spätmoderne Mensch, der sich in diesen Umgebungen bewegt, für sich und sein Leben nach Befriedigung im Besonderen strebt. Quelle: „Die Gesellschaft der Singularitäten“ von Andreas Reckwitz

Von Hans Klumbies