Die Linken haben eine Affinität zu bürgerlichen Werten entwickelt

In den Großstädten geht ein neuer Trend um. Viele Menschen wollen total normal sein. Laut Cornelia Koppetsch gibt es heutzutage eine Sehnsucht nach konservativen Werten, die auch die urbane Boheme ergriffen hat: „Dieselben Milieus, die einmal mit alternativen Lebensentwürfen experimentiert haben, konzentrieren sich heute auf Absicherung, Statuserhalt und Angleichung an die vorgegebenen Strukturen.“ Heute zeigt man wieder, was man hat. Inzwischen ist es nicht mehr anstößig, Vermögen und Besitz auszustellen. Die Eliten treten ganz im Gegenteil wieder sichtbar auf, man bekennt sich zu ihnen. Umso schärfer wird die Abgrenzung nach unter gezogen. Neu ist auch, dass Gruppen, die sich bisher als „links“ verstanden, eine Affinität zu bürgerlichen Werten entwickelt haben. Cornelia Koppetsch ist Professorin für Soziologie an der TU Darmstadt.

Der Alltag ist vom Rückzug in die Familie bestimmt

Vieles von den urbanen Milieus von heute erinnert Cornelia Koppetsch an die Umgangsformen der fünfziger Jahre. Die Gründung einer Familie und finanzielle Sicherheit spielen heute eine größere Rolle als noch vor zwanzig Jahren. In der Arbeitswelt dominiert eine Bereitschaft zur Leistung, die nicht selten an Selbstverleugnung grenzt. Auf der Ebene der Wertvorstellungen findet ein Rückzug aus dem öffentlichen Leben in den Nahbereich von Partnerschaft und Familie statt. Das gesamte Alltagsleben wird von einer Haltung der Konformität beherrscht.

Viele Menschen geben sich auf der einen Seite tolerant, klammern sich auf der anderen Seite aber ängstlich an ihre Privilegien. Man kritisiert die Vorherrschaft der Märkte, agiert aber marktangepasst. Wer nicht mithalten kann, hat sich sein Scheitern selbst zuzuschreiben. Die alte Angst vor der Spießigkeit ist scheinbar verloren gegangen. Cornelia Koppetsch erklärt: „Offenbar ist das Bedürfnis nach Planbarkeit und Sicherung des Lebensstandards inzwischen größer.“ Stand in den 1960er und 1970er Jahren bei vielen noch die Selbstverwirklichung im Vordergrund, sind es heute die bürgerlichen Traditionen und der Familiensinn.

Die Globalisierung entlässt den Einzelnen nicht in eine größere Freiheit

Die Planungssicherheit wird zum Statussymbol: Je größer die finanziellen Ressourcen, desto eher können Gefährdungen in überschaubare Risiken verwandelt werden. Was das neue Bürgertum, und die, die dazugehören wollen, beunruhigt, ist weniger ein Status- oder Einkommensverlust, sondern eher die Auflösung altbekannter Normalitäten und Rituale. Für Cornelia Koppetsch ist die neue Konformität nur teilweise eine Katerstimmung nach dem Modernisierungsrausch: „Vielleicht hat man begonnen, zumindest in Ansätzen zu erkennen, dass die Explosion der Möglichkeiten auch eine paradoxe Verarmung der Persönlichkeit mit sich bringt.“

Cornelia Koppetsch vertritt die These, dass die Globalisierung den Einzelnen nicht in eine größere Freiheit entlässt, sondern ihn an seine Herkunftsbindungen verweist und damit zurück in die Abhängigkeit von Klasse und Stand. Reiche kann man, das haben Studien ihres Kollegen Michael Hartmann ergeben, nicht dazu bringen, ihren Reichtum als etwas Ungerechtes zu betrachten. Dazu kommt, dass der Staat als Garant sozialer Sicherheit immer öfter ausfällt und die Flugkurve der Individualisierung immer mehr dem Zufall ausgesetzt ist. Quelle: Die Zeit

Von Hans Klumbies

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