Christus liebte sogar noch seine Henker

Eine der Meistererzählungen der Liebe, ihrer Erfahrung, ihres Verständnisses oder Unverständnisses ist die vom Bruch zweier Kulturen. Peter Trawny erklärt: „Zunächst war da Eros, dieser geflügelte Gott, der ein Begehren hervorrief, das oft nicht anders als tragisch enden konnte: Phädra-mäßig, die sich in der Scham enttäuschter Liebe selbst erhängte.“ Dann die Agape, die jesuanische Gabe, Appell zum friedlichen Miteinander: Christus am Kreuz, der noch seine Henker liebt. Dazwischen soll ein Abgrund gähnen. Vermutlich gehört diese Erzählung zum Christentum, das offenbar ein Interesse hatte, die heidnischen Ausschweifungen zu verdammen. Denn einen Abgrund gibt es zwischen der erotischen Liebe und der Nächstenliebe wohl nicht, doch sind Unterschiede deutlich vorhanden. Peter Trawny gründete 2012 das Matin-Heidegger-Institut an der Bergischen Universität in Wuppertal, dessen Leitung er seitdem innehat.

Gott liebt den Menschen schlechthin

Peter Trawny erläutert: „Wenn ich erotisch lieben die Eine begehre, sorge ich mich christlich um den Nächsten. Wenn man sich die überlieferten Worte – Markus 12:29ff. – anschaut, gibt es in der Aufforderung den Nächsten zu lieben, vier Elemente: Gott, den Nächsten, mich selbst, den Feind.“ Das erscheint als eine Reihe von Begriffen, die willkürlich aufeinanderfolgen. Das ist aber nicht der Fall. Christi Worte bilden eine kohärenten Zusammenhang. Dieser Liebende wusste, wovon er sprach …

Gott zu lieben, dieses Gebot kennt Jesus aus dem Judentum. Schon das Alte Testament spricht von der Liebe zwischen Gott und seinem Volk. Peter Trawny fügt hinzu: „Gewiss, diese Liebe kennt auch die Strafe, die Rache sogar. Doch wie die väterliche Güte dem Geliebten Grenzen setzt, wie gerade das Ausdruck väterlicher, liebender Verantwortung ist, liebt Jesus die Liebe dieses Vaters.“ Den Nächsten zu lieben leitet sich aus der Liebe zu Gott ab. Gott liebt den Menschen schlechthin, darum hat er ihn geschaffen – wer wäre ich, in meiner Liebe zu Gott, nicht den Anderen zu lieben?

Nächstenliebe darf nicht auf eine Belohnung zählen

Der Andere braucht diese Liebe. Peter Trawny ergänzt: „Er ist ihrer bedürftig, ich kümmere mich um ihn. Nächstenliebe ist ohne Zweifel tätige Liebe, keine Liebe, die aus der Ferne liebt; sie ist Nahliebe, dem zugewendet, der vor meinem Haus auf der Straße bettelt.“ So wie Jesus zu den Bedürftigen geht, geht man selbst zu ihnen – oder auch nicht. Aber der Nächste soll so geliebt werden, wie man selbst sich liebt. Eine erstaunliche Mitteilung. Ist in der Liebe zum Nächsten nicht gerade Selbstverzicht gefordert?

Einerseits durchaus. Wer narzisstisch meint, dass sich die Welt um ihn zu drehen hat, wird für die Nächstenliebe kaum Verständnis aufbringen. Peter Trawny stellt fest: „Er wird nicht verstehen, wie er einen Anderen oder eine Andere zu lieben hat, der oder die nichts für ihn tun. Er wird nicht verstehen, dass die Nächstenliebe insofern ein Selbstverzicht ist, als sie auf eine Belohnung nicht zählen darf.“ Ja, wie soll ein solcher Mensch verstehen, dass nach Jesus die Liebe zum Nächsten verborgen geschieht. Man hängt es nicht an die große Glocke, dass man etwas für den Nächsten tut. Quelle: „Philosophie der Liebe“ von Peter Trawny

Von Hans Klumbies