Die Befreiung dient der Rechtfertigung von Herrschaft

Christoph Menke vertritt in seinem Buch „Theorie der Befreiung“, dass sich die Menschheit in einer Zeit der gescheiterten Befreiungen befindet. Denn die Befreiung von äußerer Herrschaft und Bevormundung hat zu Regimen der Selbstkontrolle und Selbstdisziplin geführt. Die Befreiung der menschlichen Bedürfnisse und Interessen aus den Grenzen, die ihnen durch Tradition und Sittlichkeit gezogen waren, hat sie der Verwertungslogik der kapitalistischen Ökonomie unterworfen. Alle Befreiungsversuche, ob politisch, ökonomisch, rechtlich, ethische, kulturell oder künstlerisch, haben sich in Paradoxien und Widersprüche verfangen. Sie haben neue Gestalten und Strategien der Herrschaft hervorgebracht. Christoph Menke betont: „Mehr noch ist offensichtlich geworden, dass die Befreiung in Wahrheit immer schon der Rechtfertigung von Herrschaft diente.“ Christoph Menke ist Professor für Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main.

Christoph Menke entwirft ein Konzept der radialen Befreiung

Für Christoph Menke kann die Befreiung nicht länger ein Versprechen und eine Hoffnung sein. Bevor die Menschheit erneute Versuche der Befreiung entwerfen kann, muss sie zurückschauen: auf frühere Befreiungsversuche. Darum geht es in diesem Buch: um eine Theorie der Befreiung im Rückblick; im Rückblick auf Geschichten von Befreiungen, die versucht worden und die gescheitert sind. Es geht Christoph Menke auch darum, die Verknüpfung von Befreiung und Herrschaft zu erkennen.

Im ersten Teil seines Buches zeigt der Autor, dass die Befreiung in der Erfahrung beginnt. Er versteht dabei die Befreiung nicht als die freie Tat eines selbstbewussten Individuums. Er stellt ihr das Konzept der radikalen Befreiung gegenüber. Im zweiten Teil untersucht Christoph Menke die beiden Modelle der radikalen Befreiung. Das erste Modell ist die Befreiung von der Existenz als sozialer Teilnehmer, welche die moderne, liberale oder neoliberale Ökonomie verspricht.

Die „Theorie der Befreiung“ ist keine Theorie der Politik

Das zweite Modell ist der Auszug aus der herrschenden sittlichen Ordnung, die den religiöse Begriff der Befreiung definiert. Der dritte Teil bietet eine Rückschau auf die Befreiungsbewegungen, die Christoph Menke in den ersten beiden Teilen untersuchte. Dabei geht es vor allem darum, aus ihrem Scheitern zu lernen. Dieser Rückblick schaut zugleich voraus: auf die Dialektik der radikalen Befreiung. Darin zeigt sich, worin die beiden Modelle wahr sind. Ihre Wahrheit liegt darin, dass sie extrem sind, sie liegt in ihrem Extremismus.

Christoph Menke erläutert: „Die moderne Ökonomie ist der konsequente, radikale Naturalismus, die monotheistische Religion ist der Exzess des Normativen.“ Der Autor hat mit der „Theorie der Befreiung“ keine politische Theorie verfasst. Sie möchte vor allem erkunden, was allen Befreiungen gemeinsam ist. Sie will ein Moment radikaler Befreiung – das Moment der Spontaneität – verstehen, ohne das es überhaupt keine Befreiung, in keiner ihrer Gestalten geben kann.

Theorie der Befreiung
Christoph Menke
Verlag: Suhrkamp
Gebundene Ausgabe: 713 Seiten, Auflage: 2022
ISBN: 978-3-518-58792-8, 36,00 Euro

Von Hans Klumbies