Sechzig Millionen Menschen sind auf der Flucht

Die Geschichte wiederholt sich manchmal, die biblische zumal. Der Exodus der Israeliten aus Ägypten dient als Präambel zur Migrationshistorie der Menschheit. Christian Schüle erläutert: „Der Weg aus der Versklavung durch Not, Hunger, Elend, Krieg und Gewalt ins ersehnte Reich ist das alttestamentliche Leitmotiv schlechthin: Rettung durch Flucht, Erlösung durch Hoffnung.“ Die Flucht nord- und westwärts, die Massenwanderung nach Europa, ist eines der größten Probleme und Herausforderungen europäischer Politik und überhaupt: einer globalen Politik der Moral und Menschenrechte. Das Heer der entwurzelten und heimatlos gewordenen Flüchtlinge stellt eine neue Weltordnung dar. Geschätzt 60 Millionen Menschen sind derzeit auf der Flucht vor Armut, Bürgerkrieg und Dürre. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

Wanderung ist ein explizites Menschenrecht

Manche Sozialwissenschaftler rechnen mit bis zu 600 Millionen Wanderungswilligen weltweit – vornehmlich Wirtschaftsflüchtlinge, die zwar nicht direkt an Leib und Leben bedroht, langfristig aber an einem guten Leben gehindert sind. Eine Aufgabe künftiger Philosophie könnte sein, jene Kriterien zu definieren und auf den Begriff zu bringen, unter denen nicht durch Krieg und Folter, sondern auch durch Dürre und Hitze menschenunwürdige Bedingungen gegeben sind, die als leibbedrohend und lebensgefährlich eingeschätzt werden können.

Wanderung ist das explizite Menschenrecht auf universell gültige Freizügigkeit. In Artikel 13 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen heißt es 1948: „Jeder hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren.“ Das Recht gilt für jeden Menschen ohne Ansehen der Person, ohne Rechtfertigung der Gründe, ohne Angabe der Herkunft. Das Recht auf Freizügigkeit ist ein Recht auf Freiheit. Das Gegenteil dieses Rechts ist die Freiheitsberaubung durch Kasernierung mittels Zaun oder Mauer.

Recht auf Wanderung ist nicht gleich Recht auf Einwanderung

Christian Schüle stellt fest: „Am Recht auf Wanderung scheiden sich Demokratien und Diktaturen, was nicht heißt, das Demokratien keine Grenzen brauchen, und was auch nicht heißt, dass jeder Wanderer auch überall willkommen ist. Recht auf Wanderung ist nicht gleich Recht auf Einwanderung.“ Dem Recht auf Wanderung entspricht auch nicht die Pflicht zur Aufnahme. Dem Recht auf Freizügigkeit und Wanderung jedes Menschen steht das Recht der Angestammten auf Ausschluss und Abgrenzung gegenüber – das ist der moralische Konflikt der Epoche der Grenzverluste.

Der Zielort der Wanderung ist ja immer schon ein einheimischer, mit der Grammatik von Traditionen und Bräuchen vorgeschriebener Raum. Jeder, der einen anderen Raum betritt, betritt somit ein räumliches Werk aus Rechten und Regeln, Normen und Sitten. Weil der Homo faber Europas sukzessive ausstirbt und der Homo sacer der restlichen Welt die Frage nach dem Besitz der Welt nicht länger ungestellt sein lässt, wird man Heimat künftig nicht mehr mit der Ab- und Umgrenzung der Scholle verteidigen können. Quelle: „Heimat“ von Christian Schüle

Von Hans Klumbies