Das Wesen der Kultur ist ihre permanente Veränderung

Identität setzt Abgrenzung voraus – oder bildet sich erst über Abgrenzung aus. Aktiv gegen das andere, um selbst sein zu können. Wenn das andere aber ebenso sein Eignes hat, wie es das Eigene in Abgrenzung zum anderen hat, dann kann man es nur durch das Unterscheidende benennen oder eingrenzen. Christian Schüle erklärt: „Wer das versucht, wird rasch feststellen, dass auch das Eigene in sich vielfach ist. Die eigenen Kultur als die zur anderen Kultur andere besteht ja in sich schon aus so viel Nicht-Eigenem.“ Indem man sagt: Das andere ist nicht das Eigene, wird das Eigene dadurch bestimmt, dass man es so behauptet. Das ist nichts weiter als ein Formalismus. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

Seit Jahrtausenden entsteht Kultur in Tausch und Teilung

Kultur kann per definitionem weder identitär noch identitätstauglich sein. Das Wesen von Kultur ist ihre permanente Veränderung, und wer behauptet, Kultur sein ein Vehikel zur Etablierung einer UNS- oder WIR-Identität, hat Geschichte nicht verstanden. Welche aus heutiger Sicht kulturfremden Bestandteile die westliche Kultur maßgeblich mitbegründet haben, ist kaum zu überblicken: Papier aus China, Gewürze aus Indonesien, Kaffee aus Afrika, Algebra aus Arabien, Schriftkunst aus Phönizien, Astronomie aus Asien, Monotheismus aus Ägypten, christlicher Glaube aus Palästina, die Zehn Gebote aus dem Sinai.

Die europäische Kulturgeschichte wurde von Osten aus be- und erleuchtet. Seit Jahrtausenden entsteht Kultur in Tausch und Teilung durch Teilhaben und Teilnahme am Vorhandenen. Durch Diffusion, Vermischung und Fortführung dessen, was anderswo, was in der Fremde gedacht, gefunden, ersonnen, gemeint, probiert und erfahren wird. Immer schon waren es Einwanderer, die Einfluss auf die nationale Identität hatten, über die Jahrhunderte hinweg haben sie die Traditionsbestände mitgeschaffen.

Deutschland ist eine junge und bunte Einwanderungsnation

Irene Götz, die als Europäische Ethnologin nationale Selbst- und Fremdbilder erforscht, bemerkt etwa zur Identität der Deutschen: „Seit dem Dreißigjährigen Krieg wanderten aus Italien bildende Künstler und Baumeister, aber auch Händler mit Südfrüchten, die Pomeranzenkrämer, Ziegelarbeiter und Maurer ein. Sie alle veränderten das Bild insbesondere der bayerischen Städte, so wie die Hugenotten andere Regionen mitprägten.“ Polen, die zwischen 1885 und 1914 den Arbeitskräftemangel im Ruhrgebiet kompensierten, prägten Deutschland in Teilen genauso, wie es die Türken getan haben.

Der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler sagte anlässlich seiner Festrede zur Deutsche Einheit im Jahr 2008: „Kultur steht für einen Speicher von Erinnerungen, Erfahrungen und Gelerntem, von Einheimischen wie Eingewanderten gleichermaßen.“ Die zeitgemäße Kulturnation Deutschland ist also eine junge und bunte Einwanderungsgesellschaft in regionaler und urbaner Vielfalt, kurzum: eine multiethische Bürgergesellschaft. Zugehörigkeit hängt also von Willen, aufgeklärtem Wissen und entschiedenem Bekenntnis und nicht von der Abstammung ab. Quelle: „Heimat“ von Christian Schüle

Von Hans Klumbies