Manchmal findet man eine verwandte Seele

Manchmal verstärkt ein seltsames Gefühl von Evidenz noch die Verwirrung. Charles Pépin schreibt: „Ich kenne diese Person nicht, ich habe sie gerade kennengelernt, und doch bin ich mir sicher: Sie ist es.“ Dieses Gefühl gibt einem Menschen Vertrauen angesichts des Unbekannten, das es schon nicht mehr wirklich ist. Man läuft jemandem zufällig über den Weg, doch es kommt einem vor, als hätte man dieser Person begegnen müssen. Als wäre man mit ihr verabredet. Dieser Eindruck der Vertrautheit, den man beim ersten Mal im Beisein eines Menschen hat, der einem lieb und teuer geworden ist, beruht auf Gegenseitigkeit. Man fühlt sich sofort wohl in der Gegenwart des anderen, das Verständnis ist beiderseitig. Charles Pépin ist Schriftsteller und unterrichtet Philosophie. Seine Bücher wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.

Es gibt nur Verabredungen

Das ist mehr als irritierend. Wie kann es sein, dass man sich mit einem Unbekannten wohler fühlt als mit Leuten, mit denen man schon seit ewigen Zeiten verkehrt? Charles Pépin erklärt: „Es ist, als knüpfte ich, durch diese Begegnung, an Bekanntes an. Als würde ich, statt dich kennenzulernen, dich wiederkennen. Wir können uns des Eindrucks nicht erwehren – schon bei den ersten Gesprächen –, eine verwandte Seele gefunden zu haben.“ Beide rühren dieselben Songs, dieselben Skurrilitäten amüsieren sie, dieselben Verhaltensweisen nerven sie.

Bei dieser Begegnung braucht sich niemand anzustrengen. Alles läuft wie von selbst und fühlt sich leicht an. Kaum dass man einander begegnet ist, fühlt man eine ähnlich starke Bindung wie zu einem Familienmitglied. Dabei handelt es sich um eine verwirrende Nähe. Wie kommt es, dass das Neue, das Unbekannte einem Menschen so vertraut vorkommt? „Es gibt keinen Zufall, es gibt nur Verabredungen“, soll Paul Éluard gesagt haben. Eine Verabredung kann man mit einem anderen Menschen, mit sich selbst oder dem eigenen Schicksal haben.

Manchmal tritt das Schicksal in Erscheinung

In allen Fällen ist das Gefühl des Wiederkennens das untrügliche Zeichen der Begegnung, die gerade stattfindet. Charles Pépin fügt hinzu: „Ich erkenne dich wieder, denn du bist mir tatsächlich nicht unbekannt. Ich erkenne mich wieder in dem Sinne, dass ich mich wiederfinde.“ Nämlich mich oder etwas, das man liebt, eine entfernte Erinnerung, einen bereits bekannten Zustand. Oder man erkennt seine Bestimmung wieder in dem Sinne, dass man ihre Tarnung durch Zufall aufdeckt.

Das Zeichen der Begegnung ist hier, mitten im Zufall, der Eindruck einer Verabredung mit dem nicht Zufälligen. Das Gefühl von Unmittelbarkeit ist so stark, als würde das Schicksal in Erscheinung treten. Es kann sogar sein, dass man sogar Dankbarkeit für etwas empfindet für das, was einem das Leben zu bieten hat. Charles Pépin ergänzt: „Ich weiß nicht, ob ich dir begegne oder mir oder meiner Bestimmung – oder allen dreien auf einmal.“ Aber eines ist völlig klar: Es gibt Begegnung, Wiedererkennen und Dankbarkeit in einem. Quelle: „Kleine Philosophie der Begegnung“ von Charles Pépin

Von Hans Klumbies