Drei Segmente prägen die traditionelle Kultur

Es hat immer wieder Versuche gegeben, den Kern der traditionellen Kultursphäre in jeweils einen der drei Segmente der Kultur auszumachen. In der Religion etwa bei Max Weber, in der höfischen Gesellschaft bei Norbert Elias oder in der Volkskultur bei Michail Bachtin. Tatsächlich scheint aber gerade die Koexistenz aller drei Segmente für die traditionelle Kultursphäre charakteristisch zu sein. Andreas Reckwitz erläutert: „Sie ist durch eine Kombination aus Singularisierung und Wiederholung gekennzeichnet.“ In dieser Gesellschaftsform wird deutlich, dass Singularität und Innovation beziehungsweise Kreativität nicht zusammenfallen müssen. Die traditionelle Kultursphäre ist vielmehr an solchen kulturellen Elementen orientiert, die nicht einem Regime des Neuen unterworfen, sondern als wertvoll anerkannter Gegenstand der Wiederholung sind. Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt / Oder.

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Solidarität beruhigt und rüttelt zugleich auf

Für die amerikanische Biologin Donna J. Haraway hat Solidarität zwei Seiten. Erstens eine aufrüttelnde, die sich gegen sinnloses Abtöten und bewusstloses Gleichmachen richtet. Zweitens eine beruhigende, die es erlaubt, Orte des einfachen Lebens wieder aufzubauen. Ohne es vielleicht zu wissen, ist sie laut Heinz Bude eine Schülerin des französischen Soziologen Émile Durkheim. Sie entwickelt ihre Idee von Solidarität, indem sie Fäden in die Dunkelheit verfolgt. Diese bilden nach und nach Muster von Zugehörigkeit, die bestimmte Fäden aufnehmen und andere fallen lassen. Heinz Bude stellt fest: „Sie ist gegen den geradezu lächerlichen Glauben an technische Lösungen für unser Zusammenleben gefeit.“ Aber sie will auch einem Zynismus entgehen, der zu dem Schluss kommt, dass das Spiel längst vorbei sei. Seit dem Jahr 2000 ist Heinz Bude Inhaber des Lehrstuhls für Makrosoziologie an der Universität Kassel.

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Die Identität junger Muslime ist gespalten

Junge Muslime der zweiten Generation leben vorwiegend in weltlichen Gesellschaften mit christlichen Wurzeln. Sie befinden sich also in einer Umgebung, in der ihren religiösen Werte und Bräuche nicht öffentlich unterstützt werden. Ihre Eltern stammen häufig aus geschlossenen Dorfgemeinschaften. In denen praktiziert man beispielsweise lokale Formen des Islams, etwa die sufische Heiligenverehrung. Francis Fukuyama weiß: „Wie vielen Kinder von Immigranten liegt ihnen daran, sich von der altmodischen Lebensweise ihrer Familien zu distanzieren. Aber es fällt ihnen schwer, sich ihrer neuen europäischen Umgebung anzupassen.“ Die Jugendarbeitslosenquoten, zumal für junge Muslime, übersteigen oftmals dreißig Prozent. Und in etlichen europäischen Ländern stellt man immer noch eine Verbindung zwischen Ethnizität und Zugehörigkeit zu der dominierenden kulturellen Gemeinschaft her. Francis Fukuyama ist einer der bedeutendsten politischen Theoretiker der Gegenwart. Sein Bestseller „Das Ende der Geschichte“ machte ihn international bekannt.

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In Deutschland lebt eine alternde Gesellschaft

Man kann lange leben, wenn man sich – wie beim Fasten – nur etwas bescheidet. Wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit können die in der Gegenwart lebenden Menschen mit einem langen Leben rechnen. Also lohnt es sich auch, in dieses lange Leben in jeder nur möglichen Weise zu investieren. Sei es geistig, psychisch, physisch oder sozial. Horst Opaschowski weiß: „Unter allen westlichen Industriegesellschaften weist Deutschland die stärkste Alterung auf. Drastischer Geburtenrückgang lassen uns von einer alternden Gesellschaft sprechen.“ Diese kann in naher Zukunft allenfalls durch Zu- und Einwanderung gemildert, aber nicht mehr gestoppt werden. Horst Opaschowski gründete 2014 mit der Bildungsforscherin Irina Pilawa das Opaschowski Institut für Zukunftsforschung. Bis 2006 lehrte er als Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Hamburg. Ab 2007 leitete er die Stiftung für Zukunftsfragen.

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Die Singularitäten prägen die Spätmoderne

Die Etablierung einer postindustriellen Ökonomie der Singularitäten und der Aufstieg der digitalen Kulturmaschine bilden das strukturelle Rückgrat der spätmodernen Gesellschaft der Singularitäten. Das spätmoderne Selbst unterscheidet sich grundlegend von jenem Sozialcharakter, der die klassische Moderne der Industriegesellschaft dominierte. Seit den 1980er Jahren sind darüber eine Reihe prominenter soziologischer Analysen veröffentlicht worden. Dazu zählt Andreas Reckwitz Ulrich Becks Arbeiten zur Selbstreflexion und zum Risikobewusstsein von Bastelbiografien. Zu nennen sind auch Anthony Giddens` Analysen zum hochmodernen Selbst als Projekt. Ebenso dazu gehört Zygmunt Bauman These der „flüssigen“, vor allem am Konsum orientierten Identitäten. Beispielhaft sind auch Richard Sennetts Arbeiten zur umfassenden Flexibilisierung spätmoderner Lebensformen und Manuel Castells These vom Netzwerk-Subjekt. Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt / Oder.

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Die neuen Eliten fühlen sich als Avantgarde

In der Kultur der Gegenwart können sich Eliten nicht länger über die Werte der alten Eliten wie Abstammung oder Tradition definieren. Entsprechend beglaubigen die neuen Eliten ihren Anspruch über Eigenschaften. Diese sind konstitutiv für individualistische Wohlstandsgesellschaften. Zugleich sind diese Attribute ein Ausweis ökonomischer Kompetenz und gehören zum Jargon der Erfolgreichen und Dynamischen. Dazu zählt Alexander Grau Kreativität, Originalität, Flexibilität, Internationalität, Offenheit und Neugierde. Entscheidend ist nun, dass man diese Eigenschaften auch als moralische Werte verstehen kann. Die Reputation der neuen Eliten besteht nur darin, genau diese Werte zu gesellschaftlichen Idealen zu erklären. Dabei inszenieren sie sich als Avantgarde. Ganz nebenbei werden die tragenden und bestimmenden Eliten auch zur moralischen Elite erhoben. Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist.

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Der Kampf um die Wortmacht hat begonnen

Ohne dass viele Menschen es überhaupt bemerken, stecken sie mitten in einem großen Kampf. Dabei geht es um die Form, die Bedingungen und die Grenzen der globalen Redefreiheit. Sowohl in den Smartphones in ihren Taschen und vielleicht auch in ihren Köpfen. Timothy Garton Ash nennt dieses Ringen den Kampf um die Wortmacht. Wie das Wort „Rede“ in „Redefreiheit“ schließt der Begriff „Wort“ in „Wortmacht“ offensichtlich viel mehr mit ein als nur Worte. Timothy Garton Ash erklärt: „Er umfasst auch Bilder, Töne, Symbole, Informationen und Wissen sowie Kommunikationsstrukturen und Kommunikationsnetze.“ Der spanische Soziologe Manuel Castells spricht von der „Kommunikationsmacht“. Aber Timothy Garton Ash ist das kurze Wort lieber als das lange, besonders weil ohnehin jede Bezeichnung nur einen Teil des Ganzen erfasst. Timothy Garton Ash ist Professor für Europäische Studien an der Universität Oxford und Senior Fellow an der Hoover Institution der Stanford University.

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Der Fortschritt wird immer unberechenbarer

Eine Ära der Unsicherheit hat weltweit begonnen. Die Menschen müssen umdenken und lernen, in und mit dauerhaft unsicheren Zeiten zu leben. Horst Opaschowski nennt ein Beispiel: „Die Finanzmärkte kennen diese Volatilität schon lange: Kein Vermögenswert ist mehr wirklich sicher.“ Nach dem amerikanischen Risikoforscher Nicholas Taleb brauchen die Menschen ein neues Denken für eine Welt, die bei allem Fortschritt immer unberechenbarer wird. Seine Antwort und Empfehlung für die Herausforderungen in unsicheren Zeiten lautet: „Antifragilität“. Damit ist eine Lebenshaltung gemeint, die mehr als stark, solide, robust und unzerbrechlich ist. Horst Opaschowski gründete 2014 mit der Bildungsforscherin Irina Pilawa das Opaschowski Institut für Zukunftsforschung. Bis 2006 lehrte er als Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Hamburg. Ab 2007 leitete er die Stiftung für Zukunftsfragen.

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Das Bürgertum kanalisiert die Sinnlichkeit

Mit der Erhebung der Kunst in die Sphäre der Religion überwindet das Bürgertum seine asketische Tradition, wenngleich in domestizierter Form. Alexander Grau erläutert: „Im Kunstgenuss kann der Bürger leidenschaftlich sein, ohne seine Leidenschaften ausleben zu müssen. Er kann sich ohne Hingabe hingeben.“ Die Kunstrezeption erlaubt eine aseptische Sinnlichkeit. Sie erlaubt es bürgerliche Vorstellungen von Sittlichkeit mit Genuss zu verbinden. Diese Kompensationsfigur prägt das bürgerliche Handeln stark. Dies zeigt sich nicht nur in der emphatischen Kunstreligion, sondern auch in der Sakralisierung der bürgerlichen Ehe. Auch hier wird Sinnlichkeit kanalisiert und schließlich das legalisiert, was der bürgerlichen und asketischen Ethik zuwiderläuft. Allerdings genügt die Ehe als institutionalisierte Form der Triebabfuhr dem bürgerlichen Selbstanspruch bei Weitem nicht. Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist.

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Arbeit soll ein Reich der Freiheit sein

Wer heute nach einem erfolgreichen Studium oder einer Lehre in den Arbeitsmarkt eintritt, hat in der Regel ein anderes Verständnis von Arbeit als ihre Großeltern. Sie wollen nicht mehr leben, um zu arbeiten. Aber auch nicht die Arbeit runterreißen, um das wahre Leben in der Freiheit zu genießen. Heinz Bude erläutert: „Sie wollen vielmehr ein Gefühl der Lebendigkeit bei der Arbeit haben und nehmen dafür in Kauf, dass die Grenzen zwischen Arbeit und Leben fließend werden.“ Arbeit soll nicht bloß ein Reich der Notwendigkeit, sondern auch eins der Freiheit sein. In Begriffen der Wertung von Arbeit haben sich offenbar insgesamt die Gewichte verschoben. Heinz Bude studierte Soziologie, Philosophie und Psychologie. Seit dem Jahr 2000 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Makrosoziologie an der Universität Kassel.

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Das Subjekt will einzigartig sein

Die digitalen Technologien transformieren, was es heißt, ein Subjekt zu sein. Andreas Reckwitz erläutert: „Sie unterwerfen das spätmoderne Selbst einer spezifischen Form von Singularisierung, die es zugleich selbst aktiv betreibt.“ Das Subjekt arbeitet nun an sich selbst als etwas Einzigartigem. Die Außenwelt betrachtet es als potenziell Singuläres. Andreas Reckwitz unterscheidet zwei Formen der Singularisierung des Subjekts. Erstens die kulturelle Singularisierung seiner öffentlichen Darstellung, die von einem Publikum zertifiziert wird. Zweitens die maschinelle Singularisierung des Subjekts, die gewissermaßen „hinter seinem Rücken“ abläuft. In beiden Prozeduren werden Subjekte als einzigartige fabriziert, und zwar als eine modularische oder kompositorische Singularität. Diese ergibt sich dadurch, dass sie aus einzelnen unterschiedlichen Elementen – Modulen – zusammengesetzt wird. Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt / Oder.

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Die Macht fühlt sich wie eine lebendige Kraft an

Ausbeuterisches, selbstsüchtiges und gewalttätiges Handeln vernichtet den Zusammenhalt starker Gruppen. Gruppen wissen das und kennen auch Geschichten von Menschen, die die Macht missbraucht haben und habgierig und unbeherrscht handelten. Dacher Keltner erklärt: „Gruppen verleihen daher die Macht an die, die Begeisterung verbreiten und freundlich, zielorientiert, ruhig und offen sind. Mit dem Ansehen, dass sie einer Person verleihen, zeigen sie an, dass diese fähig ist, für das Wohl der Gruppe zu handeln.“ Gruppen verlassen sich auf den Ruf, wenn es darum geht, zusammenzuarbeiten, zu kooperieren, Bündnisse zu schließen und starke Bindungen einzugehen. Sie erhöhen den Ruf derer, die bereit sind, zu teilen. Und sie schädigen mit deftigen Klatschgeschichten den Ruf derer, die selbstsüchtig sind und sich als Machiavellisten aufführen. Dacher Keltner ist Professor für Psychologie an der University of California in Berkeley und Fakultätsdirektor des UC Berkeley Greater Good Science Center.

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Eliten sehen sich einer scharfen Kritik ausgesetzt

Über Eliten wird wieder gesprochen. Spitzenpolitiker, Topmanager, Meinungsführer und prominente Intellektuelle sehen sich einer scharfen Kritik ausgesetzt. Diese wird allerdings nicht wie in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts von links, sondern von Rechtspopulisten und Neokonservativen vorgetragen. Konrad Paul Liessmann kennt die Vorwürfe: „Die Eliten agierten selbstgerecht und abgehoben. Sie hätten den Kontakt zu den Sorgen und Nöten der Menschen verloren. Die Eliten trügen bei zur Spaltung der Gesellschaft und akkumulierten deren Reichtum auf ihrer Seite.“ Eliten seien vor allem eitel, unfähig zur nüchternen Selbsteinschätzung, gierig, rücksichtslos, unverschämt und bigott. Vor allem aber leisten sie nicht das, was sie gerne als Grund für ihre Auserlesenheit angeben. Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien und wissenschaftlicher Leiter des Philosophicum Lech.

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In jeder Gesellschaft gibt es Solidarität

Überall, wo eine Gesellschaft existiert, gibt es auch Solidarität. Émile Durkheim hat 1893 seinen Klassiker über die gesellschaftliche Bedeutung der Arbeitsteilung vorgelegt. Für ihn ist Solidarität zunächst nichts anderes als die Art und Weise der Einbezogenheit in eine soziales Geschehen. Nämlich wie man sich durch rhetorische Tricks gegenseitig zu beeinflussen sucht, wie man Unterscheidungen zwischen seinesgleichen und anderen trifft. Dazu zählt auch, wie man gemeinsam Feste feiert, wie man seine Toten begräbt und nach welchen Regeln man die Arbeit zwischen dem Drinnen des Haushalts und dem Draußen der Produktionsstätte aufteilt. Heinz Bude fügt hinzu: „Dabei kommt man nicht umhin, sich zu verstehen zu geben, inwieweit man sich aufeinander verlassen kann. Und womit man rechnen muss und welche Opfer die Einzelnen zu bringen bereit sind, damit das Ganze funktioniert. Heinz Bude studierte Soziologie, Philosophie und Psychologie. Seit dem Jahr 2000 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Makrosoziologie an der Universität Kassel.

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Klugheit wird in Form von Wissen weitergegeben

In der überwiegenden Mehrzahl der Gesellschaften ist Klugheit nicht nur eine persönliche Angelegenheit, sondern ein Wert, den man pflegen muss. Allan Guggenbühl erklärt: „Gemeinschaften haben eine größere Überlebenschance, wenn kluges Denken und Handeln formalisiert und weitergegeben wird. Eine Gesellschaft würde bald zusammenbrechen, wenn jeder und jede sich nur auf persönliche Kompetenzen verlassen würde. Kluge Gedanken und Einsichten werden dann durch Institutionen gehütet und durch Rituale weitergegeben.“ Einsichten und Schlussfolgerungen der Mitmenschen und der Ahnen können Menschen helfen, aktuelle Probleme und Herausforderungen zu verstehen und zu bewältigen. Klugheit wird in Form von Wissen weitergegeben. Die älteren Generationen oder weise Menschen berichten von den Erkenntnissen, die bei der Bewältigung schwieriger Herausforderungen gezogen wurden. Allan Guggenbühl ist seit 2002 Professor an der Pädagogischen Hochschule Zürich tätig. Außerdem fungiert er als Direktor des Instituts für Konfliktmanagement in Zürich.

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Die Kultur spielt eine zentrale Rolle

Bereits wenn man die Ökonomie und Technologien betrachtet – den Kulturkapitalismus und die Kulturmaschine – wird deutlich, dass die Gesellschaft der Singularitäten einer Dimension, die in der alten Industriegesellschaft von Marginalisierung bedroht war, einen zentralen Ort verschafft: der Kultur. Andreas Reckwitz erläutert: „Kultur spielt für die Art und Weise, in der sich die Spätmoderne strukturiert, eine ungewöhnliche Rolle.“ Singuläre Objekte, Orte, Zeiten, Subjekte und Kollektive sind heutzutage mehr als bloße Mittel zum Zweck beziehungsweise werden nicht mehr als solche wahrgenommen. Indem ihnen ein eigener Wert zugeschrieben wird, etwa in ästhetischer oder ethischer Weise, sind sie vielmehr in einem starken Sinn Kultur. Wenn Menschen, Dinge, Orte oder Kollektive einzigartig erscheinen, wird ihnen ein Wert zugeschrieben. Dadurch erscheinen sie gesellschaftlich wertvoll. Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt / Oder.

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Experten müssen frei argumentieren können

Wenn sie über die Einführung neuer Normen, Gesetze oder Reformen diskutieren, wenden sich Entscheidungsträger und Journalisten oft an Experten. Meistens handelt es sich dabei um Intellektuelle, die sich in einem bestimmten Gebiet profiliert haben oder im Ruf stehen, über ein Thema kritisch nachzudenken. Experten und Intellektuelle haben einen Einfluss auf die Denkprozesse, die zu einer Entscheidung führen. Allan Guggenbühl erklärt: „Die Hoffnung ist, dass sie sich nicht durch kollektive Debatten und Standardparadigmen vereinnahmen lassen, sondern sich im öffentlichen Diskurs durch geistige Unabhängigkeit und kritischen Geist auszeichnen.“ Bei Experten sollte es sich um Menschen handeln, die sich zur Aufgabe gemacht haben, nachzudenken und frei von Abhängigkeiten zu argumentieren. Allan Guggenbühl ist seit 2002 Professor an der Pädagogischen Hochschule Zürich tätig. Außerdem fungiert er als Direktor des Instituts für Konfliktmanagement in Zürich.

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Humor ist ein Gegengift gegen Fanatismus

Die Hälfte der von der Menschheit erzählten Witze stützt sich auf nationale, ethische, religiöse, soziale oder sexuelle Beleidigungen. Timothy Garton Ash weiß: „Seit mindestens 2500 Jahren genießen Komödie und Satire eine besondere Freiheit, die Grenzen von Zivilität, Anstand und Schicklichkeit zu überschreiten. Und schon genauso lange versuchen die Mächtigen den satirischen Geist zu unterdrücken.“ Humor wirkt entspannend wie ein Sicherheitsventil. Er bietet die Möglichkeit, über Dinge zu sprechen, über die man sonst schweigt. Und er ist ein unschätzbar wertvolles Gegengift gegen jeden Fanatismus. Der israelische Schriftsteller Amos Oz stellte einmal fest: „Ich habe niemals in meinem Leben einen Fanatiker mit Humor gesehen.“ Timothy Garton Ash ist Professor für Europäische Studien an der Universität Oxford und Senior Fellow an der Hoover Institution der Stanford University.

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Macht verändert den Status anderer

Wenn die Sozialwissenschaften dazu tendieren, Macht über Geld, militärische Stärke und politische Teilhabe zu definieren, tun sie das aus gutem Grund. Denn Aktivitäten, die sich darauf stützen, können die Welt erheblich verändern. Dacher Keltner ergänzt: „Durchdringt aber Macht jegliche Art der sozialen Dynamik, müssen wir sie neu definieren. Um damit zu zeigen, wie Menschen die Welt verändern, ohne auf Geld, militärische Aktivitäten und die Politik zurückzugreifen.“ So definiert, ist Macht die Fähigkeit, den Status anderer zu verändern. Mit Status meint Dacher Keltner die Stellung einer Person oder einer Gruppe im weitersten Sinne. Der Status kann also viele Bereiche betreffen: den Stand des Bankkontos, den Glauben, die Emotionen, die Gesundheit und so weiter. Dacher Keltner ist Professor für Psychologie an der University of California in Berkeley und Fakultätsdirektor des UC Berkeley Greater Good Science Center.

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In Deutschland gibt es keine Chancengerechtigkeit

Das deutsche Bildungssystem funktioniert nicht, wie es sollte. Für die Frage, wie viel Geld einer nach Hause bringt, spielt der Berufsabschluss eine zentrale Rolle. Wer ein Uni-Diplom hat, verdient in Deutschland im Durchschnitt 70 Prozent mehr als ein Realschüler, der eine Lehre macht. Alexander Hagelüken fügt hinzu: „Jedes Jahr, das ein mittelalter Arbeitnehmer vor seinem Job länger mit seiner Bildung verbringt, zahlt sich für ihn aus: Mit einem zehn Prozent höheren Einkommen.“ Das macht schnell den Unterschied zwischen einem mäßig bezahlten Job und einem Platz in der Mittelschicht. Wenn sich der Verdient so stark nach dem Abschluss richtet, ist natürlich entscheidend, wovon es abhängt, welchen Abschluss einer macht. Alexander Hagelüken ist als Leitender Redakteur der Süddeutschen Zeitung für Wirtschaftspolitik zuständig.

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Die Kluft zwischen Arm und Reich wächst

Der soziale Zusammenhalt in Deutschland bröckelt, zumindest wenn man Politikern wie Bundeskanzlerin Angela Merkel, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier oder dem Grünen-Vorsitzenden Robert Habeck glaubt. Reimer Gronemeyer kennt die zwei Phänomene, an denen diese Angst vor der Erosion festgemacht wird: „An der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich einerseits und dem Erstarken der rechtsextremen Kräfte andererseits.“ Die Tatsache, dass die Frage danach, was die Gesellschaft im Innersten zusammenhält, sich heute so vehement meldet, ist ein Ausdruck dafür, dass der Zusammenhalt in eine Krise geraten ist. Solange die Frage nicht gestellt wird, funktioniert der Zusammenhalt, scheint er selbstverständlich. Erst wenn da etwas bröckelt, taucht sie auf und wird dann unabweisbar. Reimer Gronemeyer ist seit 1975 Professor für Soziologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen, wo er 2018 zum Ehrensenator ernannt wurde.

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Die scheinbar bedrohten Eliten schotten sich ab

Weltweit haben Sozialwissenschaftler in Studien herausgefunden, dass eine wesentliche Ursache für die Ausbreitung geschlossener Wohnformen das gesellschaftspolitische Klima in einer Region ist. Ernst-Dieter Lantermann erläutert: „Je tiefer die Kluft zwischen Arm und Reich und je engagierter in der Öffentlichkeit diese Spaltung diskutiert wird, umso häufiger werden Gated Communities errichtet.“ Für den Religionswissenschaftler Manfred Rolfes ist es keine Überraschung, wenn ein einem öffentlichen Diskurs, der zum einen Armut als Bedrohung kommuniziert, zum anderen den wachsenden Reichtum einer kleinen Minderheit zum Thema macht, Gated Communities gedeihen, in denen die Begüterten vor den ökonomisch und sozial Benachteiligten geschützt werden müssen. Für den Soziologen Ulrich Vogel-Sokolowsky sind Gated Communities Ausdruck einer wachsenden Polarisierung zwischen Arm und Reich auch in Deutschland. Ernst-Dieter Lantermann war von 1979 bis 2013 Professor für Persönlichkeits- und Sozialpsychologie an der Universität Kassel.

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Die Schule ist eine „autoritäre“ Institution

Für Herbert Renz-Polster stellt sich die Frage, ob das Bildungssystem vielleicht selbst dafür sorgt, dass sich autoritäre Haltungen bei Schülern verfestigen. Wenn dies auch unbeabsichtigt geschieht. Denn in einem gewissen Sinne ist die Schule eine „autoritäre“ Institution. In dem Sinne nämlich, dass sie die Schüler einer von ihnen selbst kaum hinterfragten Ordnung unterwirft. Herbert Renz Polster kritisiert: „Bis heute verbringen Schüler den größten Teil ihrer Kindheit damit, Fragen zu beantworten, die sie selbst nicht gestellt haben.“ Je besser sie diese Fragen beantworten und je reibungsloser sie diese beantworten, desto besser fällt ihre Benotung durch ihre pädagogischen „Führer“ aus. Die Lehrpläne, die Bildungsinhalte, die Methoden – die alle waren schon längst da, bevor das Kind auch nur die Schule betreten hat. Der Kinderarzt Dr. Herbert Renz-Polster hat die deutsche Erziehungsdebatte in den letzten Jahren wie kaum ein anderer geprägt.

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Das Kino verschränkt den Konsum mit der Kunst

Die Welt des Konsums entwickelt sich seit den 1920er Jahren zur neuen Kultursphäre. Es findet sozusagen eine Konsumrevolution statt. Andreas Reckwitz erläutert: „Güter, die bisher primär instrumentellen Zwecken dienten, kulturalisiert man nun mehr und mehr. Und sie erhalten einen narrativen, ästhetischen, expressiven oder ludischen Selbstzweck.“ Mit dem Konsum weitet sich jenseits von bürgerlicher Kunst und Kultur das Feld dessen, was Kultur sein kann, deutlich aus. Zentral ist: Die Güter in einer kommerziellen Marktkonstellation buhlen um die Gunst des Konsumenten. Daher koppelt man Kultur nun nicht mehr an den Staat, sondern an die Ökonomie. In einzelnen Segmenten lassen sich hier bereits Mechanismen von kultureller Innovation und Differenzierung nach Art eines „Modezyklus“ beobachten. Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt / Oder.

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Machtmissbrauch gehört nicht zur menschlichen Natur

Von der Liebe abgesehen, gibt es keinen anderen Bereich des sozialen Lebens, der so gründlich erforscht ist wie der Erwerb von Macht, ihr Missbrauch und schließlich ihr Verlust. Die großen Geschichten vom Missbrauch der Macht und dem darauffolgendem Verlust derselben, faszinieren Menschen seit jeher. Die Fixierung auf den Machtverlust könnte einen Menschen zu dem Glauben verleiten, der Missbrauch von Macht sei unvermeidlich. Aber das Macht-Paradox ist viel komplexer. Dacher Keltner erklärt: „Machtmissbrauch ist nicht Teil der menschlichen Natur.“ Macht bedeutet nicht nur die Möglichkeit, andere beeinflussen zu können, sie prägt auch das Selbstbewusstsein. Das Gefühl, über Macht zu verfügen, löst einen Rausch an Erwartungen aus. Dacher Keltner ist Professor für Psychologie an der University of California in Berkeley und Fakultätsdirektor des UC Berkeley Greater Good Science Center.

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