Ein starker Mensch träumt nicht von Vergeltung

Martha Nussbaum betont, welche Rolle die Hilflosigkeit bei der Vergeltung spielt: „Vergeltungswünsche sind häufig Ausdruck verdrängter grundlegender Machtlosigkeit und vermitteln die Illusion, man könnte an seiner schlechten Situation etwas ändern.“ Entsprechend ließe sich vermuten, dass Menschen und auch Institutionen desto eher Gnade walten lassen könnten, je mehr Vertrauen sie in die eigene Stabilität und ihre eigene Macht haben. Und in der Tat hat der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche eine solche Verbindung überzeugend dargestellt. Wie der römische Philosoph Seneca vertritt er die Auffassung, dass die Rachemoral, die er im Christentum erkennt, psychologisch mit einem Gefühl der Schwäche und der Machtlosigkeit verbunden ist. Martha Nussbaum ist Philosophin und Professorin für Rechtswissenschaften und Ethik an der University of Chicago. Sie ist eine der einflussreichsten Philosophinnen der Gegenwart.

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Aussagen sind entweder wahr oder falsch

Das sogenannte Wahrheitsargument nimmt seinen Ausgang von der Beobachtung, dass ein Mensch das, was er für wirklich hält, in Sätzen ausdrücken kann. Markus Gabriel ergänzt: „Sätze, mit deren Äußerung wir beanspruchen festzustellen, was der Fall ist, können wir als Aussagen bezeichnen. Aussagen sind entweder wahr oder falsch.“ Sie sind jedenfalls etwas, bei dem das Wahrsein überhaupt infrage kommt. Eine Disjunktion ist dabei eine Aussage der Form, dass etwas oder etwas anderes der Fall ist. Wenn etwas wahr ist, kann man diese Wahrheit durch etwas ergänzen, bei dem es keine Rolle spielt, ob es auch wahr ist. Seit 2009 hat Markus Gabriel den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne und ist dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.

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Minimalismus bedeutet Freiheit

Ein Großteil des eigenen Besitzes hat rein persönlichen Wert: Reiseandenken, geliebte, vom vielen Lesen zerfledderte Bücher, Briefe von teuren Menschen, Fotos unvergesslicher Momente. Fumio Sasaki ergänzt: „Die Mühe, die es uns gekostet hat, ein bestimmtes Ding zu bekommen, der Preis, den wir bezahlt haben, um es zu erwerben, die Geschichte drumherum – all das steigert den Wert, den wir einem Ding beimessen.“ Doch egal wie teuer einem Menschen ein Gegenstand ist, egal wie wunderbar man ihn findet: Andere Menschen werden ihn nicht so hoch schätzen, in ihren Augen handelt es sich einfach um einen beliebigen Gegenstand. Diese Erkenntnis kam Fumio Sasaki, al er darüber nachdachte, was nach seinem Tod passieren würde. Fumio Sasaki arbeitete als Cheflektor des japanischen Verlages Wani Books, bevor er freier Autor wurde.

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Das Schicksal lässt sich nicht berechnen

Vor allem ist es der persönlichen Entscheidung überlassen, wie man sein Geschick aufnimmt, bewertet und in sich verarbeitet. Albert Kitzler fügt hinzu: „Schicksal ist ein Verhältnis, nämlich das zwischen einem äußeren Ereignis und der seelischen Verarbeitung.“ Beide Seiten dieses Verhältnisses, das äußere Ereignis und der Mensch selbst, haben einen Einfluss darauf, ob ein Missgeschick oder Unglück bei ihm Ärger, Zorn, Angst und Sorgen auslöst. Seneca lässt einmal die Natur, bzw. das Schicksal, folgendermaßen sprechen: „Das, worüber du klagst, ist für alle das Gleiche. Ich kann niemandem zu Leichterem verhelfen; wohl aber kann jeder, wenn er nur will, es sich selber leichter machen.“ Der Philosoph und Jurist Dr. Albert Kitzler ist Gründer und Leiter von „MASS UND MITTE“ – Schule für antike Lebensweisheit.

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Meist ist die Natur bedrohlich und erhaben

Nur die Natur, oder vielmehr die Kulturlandschaft, die viele Menschen oft für die ursprüngliche Natur halten, kann von sich aus „schön“ sein. Meist allerdings ist die Natur vor allem bedrohlich und erhaben. Frank Berzbach weiß: „Natur ist nur dann schön, wenn sie zugänglich wird, wie es die Geschichte der Gärten, die Gartenkunst erzählt. Im Garten begegnen wir der Natur auf eine aushaltbare Weise wieder.“ Die ungefilterte Begegnung mit ihr – auf den Weltmeeren, in der Wüste oder im Hochgebirge – hat oft wenig mit Schönheit zu tun, sondern ist eher eine Erfahrung überwältigender Demut. Man kommt sich klein und unbedeutend vor. Der Mensch ist ein Mängelwesen. Dr. Frank Berzbach unterrichtet Psychologie an der ecosign Akademie für Gestaltung und Kulturpädagogik an der Technischen Hochschule Köln.

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Nur die Bildung führt zu einem voll erblühten Menschsein

Die platonische Lebenskunst ist keine Ethik des Willens, sondern des Verstehens. Es geht ihr nicht darum, den Willen des Menschen auf bestimmte Werte oder Normen zu lenken, sondern sie lädt ein, auf umfassende, ganzheitliche und existenzielle Weise zu verstehen, was es im eigentlichen Sinne bedeutet, ein lebendiger Mensch zu sein. Christoph Quarch erläutert: „Der Weg dorthin ist kein religiöser Weg der Askese oder Unterwerfung und auch kein Weg utilitaristischer Nutzenkalküle oder zweckrationaler Strategien.“ Es ist vielmehr der Weg der Bildung. Man kann ihn als ein Programm der Kultivierung der im Menschen latenten Anlage zum voll erblühten Menschsein beschreiben, keineswegs aber als ein methodisch-technisches Programm der Optimierung des Menschen. Der Philosoph, Theologe und Religionswissenschaftler Christoph Quarch arbeitet freiberuflich als Autor, Vortragender und Berater.

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Michel Foucault befreit das Denken

Die neue Sonderausgabe des Philosophie Magazins ist dem Philosophen Michel Foucault gewidmet. In ihrem Editorial beschreibt Chefredakteurin Catherine Newmark den französischen Denker und Intellektuellen als einen Menschen, der die Philosophie gerade nicht als ein Gespräch mit den komplizierten Gedanken weiser alter Männer betrieb, sondern als ein einziges großes Warum-Fragen: „Warum ist unsere Idee von Wahrheit so, wie sie ist, und nicht anders? Wie sind überhaupt unsere Kategorien des Wissens und der Weltwahrnehmung entstanden?“ Michel Foucault interessierte es überhaupt nicht, sich in ein bestehendes philosophisches Systemdenken mit einem weiteren Argument einzumischen. Ihm ging es ums große Ganze: „Wie kommt es, dass wir so denken, wie wir denken?“ Und ebenso: „Wie hat sich unser kompliziertes Verhältnis zu uns selbst und zu unserem Körper historisch entwickelt?“

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Liebe und Freiheit gehören untrennbar zusammen

Die Liebe, das Gefühl der Verschmelzung schlechthin, beinhaltet paradoxerweise ein Fragment der ausgedehnten und komplexen Geschichte von Autonomie und Freiheit, die zumeist in politischen Begriffen erzählt wird. Eva Illouz erläutert: „Das Genre der Liebeskomödie – das mit Menander entstand, von den Römern mit den Stücken von Plautus und Terenz fortgesetzt wurde und in der Renaissance zu neuer Blüte fand – handelte vom Anspruch junger Menschen auf Freiheit gegenüber Eltern, Lehrern und alten Männern.“ Während die Liebe in Indien und China in religiös modellierten Geschichten verhandelt wurde, einen festen Bestandteil im Leben der Götter bildete und nicht an sich gegen gesellschaftliche Autoritäten aufbegehrte, löste sie sich in Westeuropa und den Vereinigten Staaten nach und nach von der religiösen Kosmologie ab. Eva Illouz ist Professorin für Soziologie an der Hebräischen Universität von Jerusalem sowie Studiendirektorin am Centre européen de sociologie et de science politique de la Sorbonne.

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Der Minimalismus steigert die Zufriedenheit

Funktionstüchtige Dinge wegzuwerfen, ist eine Verschwendung. Fumio Sasaki widerstrebt es, Dinge einfach in den Müll zu schmeißen, und er versucht, sein Zeug so loszuwerden, dass jemand anderes noch etwas davon hat. Fumio Sasaki erläutert: „Die wahre Verschwendung aber liegt in dem seelischen Schaden, den man nimmt, wenn man sich an nutzlose Dinge klammert.“ Ständig fühlt man sich schuldig – beim Betrachten unnützer Geschenke oder überflüssiger Einkäufe. Sich von Dingen zu trennen, heißt allerdings nicht, seine Erinnerungen wegzuwerfen. Manchmal sorgt genau dieser Akt des Verabschiedens dafür, dass sich bestimmte Erinnerungen für die Ewigkeit einbrennen. Der amerikanische Dichter Allen Ginsberg sagte einmal, einem Teppich doppelt so viel Aufmerksamkeit zu schenken, sei gleichbedeutend damit, zwei Teppiche zu besitzen. Fumio Sasaki arbeitete als Cheflektor des japanischen Verlages Wani Books, bevor er freier Autor wurde.

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Die digitale Revolution greift den Arbeitsmarkt an

Die Gedanken, Gefühle und Interessen der Menschen scheinen heutzutage in vielen Wirtschaftsbereichen nichts mehr zu gelten. Für den weltklugen irischen Konservativen Edmund Burke, einen Schriftsteller und Politiker des 18. Jahrhunderts, waren sie allerdings der einzige feste Halt von Autorität. Nicht Gesetze, Sätze auf Papier mit Unterschriften, entscheiden darüber, ob eine Gesellschaft zusammenhält, sondern ihre „Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten und Sympathien füreinander“. Ihre „Sitten, Umgangsformen und Lebensgewohnheiten“ stiften den sozialen Kitt; „Verpflichtungen, die mit dem Herzen besiegelt werden“. Richard David Precht stellt fest: „Doch offenkundig kümmern sich die großen Digitalkonzerne bei der Ausübung ihrer neuen Weltherrschaft herzlich wenig um die Maxime, Macht auf Sitten und Gebräuche zu gründen.“ Der Philosoph, Publizist und Bestsellerautor Richard David Precht zählt zu den profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.

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Die Verantwortung ist eng mit der Lüge verbunden

Konrad Paul Liessmann macht sich nichts vor: „Ist von Verantwortung die Rede, lauert im Hintergrund schon die Lüge.“ Ein Beispiel? „Verantwortung kennt keine Grenzen.“ Mit diesem Slogan bewarb der VW-Konzern vor dem Abgasskandal seine angeblich führende Rolle in Sachen „Corporate Social Responsibility“. Noch kurz vor seinem Rücktritt konnte der Vorstandsvorsitzende Martin Winterkorn verkünden: „Mit dem Wachstums des Konzerns wächst auch seine Verantwortung – für sichere und gute Arbeitsplätze, für die Ausbildung und die Chancen der jungen Generation, für Bildung, Wissenschaft und Kultur, für eine Gesellschaft, in der jeder Mensch seine Talente entfalten kann, und vor allem auch: für eine intakte Umwelt.“ Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien und wissenschaftlicher Leiter des Philosophicum Lech.

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Der Zauber des Abendlands liegt im Widerstreit begründet

Nach wie vor hält es Thea Dorn für fragwürdig, wenn beim Reden über Europa Wohlstand und Frieden so massiv in den Vordergrund gestellt werden. Selbstverständlich sind beide wertvolle Errungenschaften. Es ist ein Segen, dass das heutige Europa weder von Hunger und Seuchen noch von blutigen Glaubens-, Ideologie- oder Territorialkriegen verwüstet wird. Dennoch ist Thea Dorns Europa in erster Linie ein geistig-kultureller und freiheitlicher Kontinent. Thea Dorn schreibt: „Wenn ich den eigentümlich unruhigen und dynamischen Zauber des Abendlands mit einem Wort benennen sollte, würde ich sagen: Er liegt im Widerstreit begründet.“ Das europäische Denken nahm seinen Anfang mit fragmentarisch überlieferten Reflexionssplittern wie denen des Vorsokratikers Heraklit. Thea Dorn studierte Philosophie und Theaterwissenschaften. Sie schrieb eine Reihe preisgekrönter Romane, Theaterstücke und Essays.

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Das menschliche Leben war von Anfang an ein gesellschaftliches

Das menschliche Leben funktioniert „normativ“. Das heißt: Es ist von Regeln bestimmt, die nicht allein empirisch sind, also nicht nur aus Erfahrung und Bedingungen bestehen, sondern aus selbst gemachten Wertungen und Zumutungen. Thomas Fischer erläutert: „Die Frage, ob man dies in einem reflektierten, absichtsvollen Sinn „will“ oder als richtig, angemessen, rational empfindet, stellt sich in der Wirklichkeit nicht, denn eine Alternative besteht nicht.“ Das menschliche Leben ist von Anfang an ein gesellschaftliches gewesen und daher untrennbar mit Normativität verbunden. Anders als in den theoretischen Modellen des sogenannten „Gesellschaftsvertrags“ beschrieben, entstanden menschliche Gesellschaften nicht als quasi vertragliche Zusammenschlüsse freier und geistig entwickelter Individuen aus rationalen Gründen, sondern immer und ausschließlich als Gemeinschaften, in einer kollektiven evolutionären Entwicklung aufeinander bezogenen bewussten Handelns. Thomas Fischer war bis 2017 Vorsitzender des Zweiten Senats des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe.

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Das Selbst ist einem ständigen Wandel unterworfen

Es ist das Akzeptieren von Vielfalt, von Zweideutigkeit, von verschiedenen möglichen Wegen, die einem Menschen die Augen für das Eigene öffnen. Dabei geht es auch um das Einräumen von Uneindeutigkeit und inneren und äußeren Grenzen, die man mitdenken muss – und zwar gerade dann, wenn man auf der Suche nach dem Wahren, dem Wahrhaftigen ist. Ina Schmidt weiß: „Es ist der Mut, den wir brauchen, einer solch zweideutigen Wahrheit gegenüberzutreten, eröffnet die Möglichkeit, sich wirklich selbst zu begegnen.“ Es geht also nicht darum, das eigene Wesen aufzudecken, sondern sich in einem werdenden Sein zurechtzufinden, einem Selbst, das aufmerksamer Betrachtung und Begleitung bedarf, um in allem Wandel immer wieder ein Selbst bleiben zu können. Ina Schmidt gründete 2005 die „denkraeume“, eine Initiative, in der sie in Vorträgen, Workshops und Seminaren philosophische Themen und Begriffe für die heutige Lebenswelt verständlich macht.

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Ein guter Richter solle Gnade walten lassen

In ihrer Erörterung der Perspektive nachträglicher Bestrafung hat Martha Nussbaum wiederholt auf die immense Bedeutung des vorausschauenden Denkens verwiesen: „Wenn die Gesellschaften das menschliche Wohl besser schützen würden, gäbe es zwar sicher auch weiterhin Verbrechen, doch es wären insgesamt weniger.“ Bildung, Erwerbstätigkeit und Wohlverhältnisse machen viel aus. Bei der Auseinandersetzung mit der Bestrafung möchte Martha Nussbaum auf eine von den Stoikern hoch geschätzte Haltung zu sprechen kommen. Der griechisch-römischen Auffassung nach ist Gnade oder Milde eine Eigenschaft eines guten Richters, wenn er darüber entscheidet, wie auf Ungerechtigkeiten reagiert werden soll. Seneca definiert sie als „Mäßigung in der Macht zu strafen“. Martha Nussbaum ist Philosophin und Professorin für Rechtswissenschaften und Ethik an der University of Chicago. Sie ist eine der einflussreichsten Philosophinnen der Gegenwart.

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Das Wesen der Kultur ist ihre permanente Veränderung

Identität setzt Abgrenzung voraus – oder bildet sich erst über Abgrenzung aus. Aktiv gegen das andere, um selbst sein zu können. Wenn das andere aber ebenso sein Eignes hat, wie es das Eigene in Abgrenzung zum anderen hat, dann kann man es nur durch das Unterscheidende benennen oder eingrenzen. Christian Schüle erklärt: „Wer das versucht, wird rasch feststellen, dass auch das Eigene in sich vielfach ist. Die eigenen Kultur als die zur anderen Kultur andere besteht ja in sich schon aus so viel Nicht-Eigenem.“ Indem man sagt: Das andere ist nicht das Eigene, wird das Eigene dadurch bestimmt, dass man es so behauptet. Das ist nichts weiter als ein Formalismus. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

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Es gibt nicht nur eine einzige Wirklichkeit

Es ist ein Vorurteil, dem zufolge ein Mensch nur Dinge wahrnehmen kann, die seine Nervenenden reizen. Markus Gabriel weiß: „Unsere Gedankenwelt setzt sich nicht nur aus Nervenkitzel zusammen, den das Gehirn weiterverarbeitet.“ Dazu muss man sich klarmachen, dass ein Mensch nur äußerst selten nur einfache Dinge beziehungsweise Fragmente auffasst. Das Grundmuster des Neuen Realismus stellt sich wie folgt dar: Es gibt nicht nur eine einzige Wirklichkeit – die Welt, die Wirklichkeit, das Universum, die Realität im allumfassenden Sinn –, sondern unendlich viele. Da nicht alle Wahrnehmungen in einer einzigen Wirklichkeit untergebracht werden müssen, ist es möglich, viele Wirklichkeiten einzuräumen, die von verschiedenen Lebewesen ebenso wie Individuen einer Art wahrgenommen werden. Seit 2009 hat Markus Gabriel den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne und ist dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.

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Die eigene Identität ist durch die Pluralisierung bedroht

Alle pluralisierten Schauplätze verdoppeln sich. Wahlweise könnte man auch sagen, dass sie sich spalten. Isolde Charim nennt als Beispiel die Identität. Der Schriftsteller Navid Kermani meinte in einem Interview, die Menschen im Westen leben heute „in einem fragilen Gleichgewicht“, das ständig bedroht sei durch die unterschiedlichen Identitäten. Denn, so Navid Kermani, „Identität bildet sich selbst im friedlichen Fall in Abgrenzung von anderen heraus“. So unmittelbar einleuchtend dieser Satz auch zu sein scheint – für eine pluralistische Gesellschaft trifft er nicht ganz zu. Nicht weil pluralisierte Gesellschaften sich so an ihrer Buntheit und Vielfalt erfreuen würden, dass sie im Taumel einer umfassenden Umarmung versinken würden. Die Philosophin Isolde Charim arbeitet als freie Publizistin und ständige Kolumnistin der „taz“ und der „Wiener Zeitung“.

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Martha Nussbaum macht auf falsche soziale Werte aufmerksam

Menschen werden einem Rechtssystem nicht lange ihre Unterstützung oder gar Gefolgschaft gewähren, wenn sie die ihm zugrunde liegenden Werte strikt ablehnen. Jedes Programm, das sich den Menschen gegenüber nicht rechtfertigen lässt, besteht keinen normativen Grundtest. In seinem Werk „Politischer Liberalismus“ erklärt John Rawls, um Legitimität beanspruchen zu können, müsse man zeigen, dass die vorgeschlagenen Werte Gegenstand eines übergreifenden Konsenses unter den Bürgern als den Vertretern der vernünftigen religiösen und säkularen Hauptlehren werden können. Martha Nussbaum fügt hinzu: „Rawls besteht allerdings nicht darauf, dass der übergreifende Konsens in der Gegenwart bereits verwirklicht sein muss. Seiner plausibleren Auffassung nach muss lediglich gezeigt werden, dass es einen überzeugenden Weg gibt, wie sich solch ein Konsens mit der Zeit und durch Argumentation erreichen lässt.“ Martha Nussbaum ist Philosophin und Professorin für Rechtswissenschaften und Ethik an der University of Chicago. Sie ist eine der einflussreichsten Philosophinnen der Gegenwart.

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Den Kern einer gerechten Gesellschaft bildet der „Schleier des Nichtwissens“

Das Titelthema des neuen Philosophie Magazins 04/2019 lautet: „Was ist eine gerechte Gesellschaft?“ Viele politische Großereignisse der letzten Jahre hängen mit dieser Frage zusammen: die Proteste infolge der Finanzkrise, der Aufstieg des Rechtspopulismus, der Brexit, die Demonstrationen der sogenannten „Gelbwesten“ in Frankreich, die Schülerproteste für den Kampf gegen den Klimawandel sowie die jüngsten Debatten um Enteignungen. Dabei gibt es unübersehbare Gemeinsamkeiten: Überall geht es um Fragen der Verteilungsgerechtigkeit. Der Verteilung von Geld, Eigentum, Macht, Anerkennung und ökologischer Ressourcen. Der US-amerikanische Philosoph John Rawls hat die wirkmächtigste Theorie der Gerechtigkeit des 20. Jahrhunderts entworfen. Der „Schleier des Nichtwissens“ bildete für ihn den Kern einer gerechten Gesellschaft. Mi seinem „Differenzprinzip“ legitimierte er soziale Ungleichheiten unter bestimmten Bedingungen. Zentral bleibt bei seinen Überlegungen für John Rawls folgendes: Individuelle Freiheiten und Rechte dürfen nicht auf die Gesamtheit eines hypothetischen kollektiven Wohlergehens gegründet werden.

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Platon sucht nach dem Maß des guten Lebens

Wenn der griechische Philosoph Platon (427 – 347 v. Chr.) nach dem guten Leben fragt, dann sucht der nach dem Maß des guten Lebens. Dieses Maß nennt Platon in den „Nomoi“ Gott – und verrät im gleichen Dialog, wer diese Gottheit ist, die aller phýsis, allem Sein und Leben unbedingt maßgeblich ist: die psyché bzw. die Lebendigkeit, die alles trägt und hält, durchwaltet und belebt.“ Christoph Quarch weiß: „Die psyché ist Grund und Wesen des Erscheinens und des Werdens – und es liegt in ihrer Logik, dass sie Harmonie und Stimmigkeit gebiert, wo immer sie sich in der wahrnehmbaren Welt bekundet.“ In ihr gründet auch die Ordnung eines jeden lógos, der stets dann ein wahrer lógos ist, wenn er der Logik der Lebendigkeit angemessen ist und der Dynamik ebenso wie dem Sowohl-als-auch des Lebens Rechnung trägt. Der Philosoph, Theologe und Religionswissenschaftler Christoph Quarch arbeitet freiberuflich als Autor, Vortragender und Berater.

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Die Freiheit schützt die Vernunft

In der Antike, im Mittelalter und am Beginn der Neuzeit forderte die Freiheit vor allem den Mut, den eigenen Verstand zu gebrauchen. Paul Kirchhof erläutert: „Mit Vernunft werde die Natur beherrscht, Frieden gesichert, Herrschaft gemäßigt, eine Gleichheit der Lebensverhältnisse für alle erstrebt.“ Heute in Zeiten dominanter teilrationaler Eigensysteme – der ökonomischen, technischen und sozialen Vernunft – muss man für eine ganzheitliche Freiheit kämpfen, die Folgen wettbewerblichen Gewinnstrebens, algorithmischer Folgerichtigkeit und sozialen Erwartungen in Frage stellen. Die Freiheit schützt die Vernunft, gewährt aber auch das Recht unvernünftig sein zu dürfen. Dr. jur. Paul Kirchhof ist Seniorprofessor distinctus für Staats- und Steuerrecht an der Universität Heidelberg. Als Richter des Bundesverfassungsgerichts hat er an zahlreichen, für die Entwicklung der Rechtskultur der Bundesrepublik Deutschland wesentlichen Entscheidungen mitgewirkt.

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Eros besaß bei den Stoikern eine doppelsichtige Gestalt

Für den Philosophen Zenon von Kition (um 334/332 – 262/261 v. Chr.) und die Stoiker besaß eros eine doppelsichtige Gestalt, die zwischen desinteressierter, wohltätiger Liebe und aggressiver, womöglich grausamer Leidenschaft changierte. Franz X. Eder erläutert: „Die von den Göttern gegebene Begierde konnte sowohl die Quelle für Freude und Vergnügen, für Güte und Zuneigung sein, allerdings auch für genau gegenteilige Emotionen zwischen und unter den Geschlechtern.“ In der griechischen Ethik widmete man König eros deutlich mehr Aufmerksamkeit als anderen Tugenden und Lastern, die beim kontrollierten Umgang mit sich selbst problematisiert wurden. Im Athen des 4. und 5. Jahrhunderts v. Chr. hatten sich die Philosophen schon intensiv mit der Frage beschäftigt, wie der legitime eros gestaltet sein musste, damit sein destruktives Potential kanalisiert und für die Freundschaft und Erziehung genutzt werden konnte. Franz X. Eder ist Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien.

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Der Gottesglaube ist eine Form von Geisteskrankheit

In seinem Buch „Nach Gott“ stimmt der Philosoph Peter Sloterdijk einen radikalen Abgesang auf den jüdisch-christlichen Monotheismus an. Der Autor vertritt die These, dass auch Götter sterblich und dem Gesetz der Geschichte unterworfen sind. Solange Menschen denken können, müssten Götter sterben oder wurden ins Exil geschickt – ob nun die Gottheiten des antiken Polytheismus oder die der germanischen Mythologie. Irgendwann war ihr sinngebendes Potential verbraucht und es trat schleichend ihre Agonie ein. Ihr Tod wurde notwendig, um Raum für einen neuen Lebenszyklus mit neuen Göttern zu schaffen. Laut Peter Sloterdijk befindet sich die Menschheit im 21. Jahrhundert in einer Epoche der erneuten Götterdämmerung, wobei es sich um die allmähliche Sinnentleerung des Bildes vom allmächtigen und allwissenden Gott handelt, der graduell ausblutet und zwangsläufig verblasst.

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Der Glaube ist etwas Irrationales

Søren Kierkegaard (1813 – 1855) beschäftigt sich in seinem berühmtesten Werk „Entweder – Oder“ (1843) mit dem Thema der Entscheidungsfindung. Nigel Warburton erklärt den Inhalt: „Dieses Buch stellt den Leser vor die Entscheidung, entweder ein Leben des Vergnügens und der Schönheit zu wählen oder eines, das auf konventionellen Moralregeln gründet – eine Entscheidung zwischen Ästhetik und Ethik.“ Und immer wieder kehrte er in seinen Schriften auf ein Thema zurück – den Glauben an Gott. Den Mittelpunkt bildet die Geschichte von Abraham. Für Søren Kierkegaard ist der Glaube an Gott keine einfache Entscheidung, sondern eine, die einen Sprung ins Ungewisse erfordert, eine im Glauben getroffene Entscheidung, die sich sogar gegen konventionelle Vorstellungen von dem, was man tun sollte, wendet. Der Philosoph Nigel Warburton ist Dozent an der Open University. Er gibt außerdem Kurse über Kunst und Philosophie am Tate Modern Museum.

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