Disruption kommt in allen Bereichen des Lebens vor

Die Disruption ist überall. Sie ist das übergeordnete Geschehen der Gegenwart. Sie kommt in allen Bereichen des Lebens vor. Andreas Barthelmess nennt Beispiele: „Politik und Gesellschaft, Freundschaft und Liebe, Kunst und Ernährung, Sport und Gesundheit, Partnerschaft und Sex.“ Alle diese Bereiche lassen sich unter einem weit verstandenen Begriff von „Kultur“ fassen. Kultur ist, was die Menschen aus dem machen, was ihnen unausweichlich vorgegeben ist. Aber was ist vorgegeben? Der Vorschlag von Andreas Barthelmess lautet: der technologische Fortschritt. Er treibt die Menschen an. Wie genau der technische Fortschritt in die Welt kommt, weiß man nicht. Wohl aber weiß man, welche Eigendynamik er entfaltet, sobald er in Form einer Erfindung oder Entdeckung einmal da ist. Andreas Barthelmess ist Ökonom, Start-up-Unternehmer und Publizist.

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Das Kaffeehaus ist ein Ort der öffentlichen Schönheit

Die Geschichte des Kaffees ist verbunden mit der Tradition der europäischen Kaffeehäuser. In diesen trafen sich die Intellektuellen der Aufklärung, in ihnen wurde debattiert und es lagen in ihnen republikanische Zeitungen aus. Frank Berzbach ergänzt: „Bis heute verorten wir den modernen Dichter im Café.“ Vor allem die Kaffeehäuser in Wien waren berühmt, die Cafés von Paris legendär und vor dem zweiten Weltkrieg auch diejenigen von Berlin. Sie alle böten genug Stoff, um eine ganze Literaturgeschichte zu schreiben. Jean-Paul Sartre, schreibend im Café, bietet für Frank Berzbach ein Urbild dieser öffentlichen Schönheit. Das Kaffeehaus ist ein Ort, der eine verlässlich gleiche Kuchenauswahl bietet. Stilvolle Kellner üben dort ihren Beruf aus. Sie blicken auf jeden leicht abfällig herab, lassen aber einen generell in Ruhe. Dr. Frank Berzbach unterrichtet Psychologie an der ecosign Akademie für Gestaltung und Kulturpädagogik an der Technischen Hochschule Köln.

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Es gibt keinen Weg zurück in eine homogene Gesellschaft

Die Vorstellung von Pluralisierung beruht auf dem grundlegenden Missverständnis, dass die Vielfalt, dass die Pluralisierung eine Gesellschaft unverändert ließe. Woher rührt diese falsche Vorstellung. Isolde Charim erläutert: „Sie rührt daher, dass man glaubt, gesellschaftliche Vielfalt sei eine Ansammlung unterschiedlicher Kulturen und Religionen. Gesellschaftliche Vielfalt sei einfach eine Addition.“ Da gäbe es das Bestehende, das sind die Einheimischen, und zu denen käme dann einfach etwas Neues hinzu: beispielsweise die Türken oder die Jugoslawen. Aber Pluralisierung ist keine Addition. Es ist für Isolde Charim das Gebot der Stunde zu verstehen, was Pluralisierung eigentlich bedeutet. Und da muss man zweierlei festhalten: Erstens: Pluralisierung ist ein unhintergehbares Faktum. Es gibt keinen Weg zurück in einen nicht-plurale, in eine homogene Gesellschaft. Die Philosophin Isolde Charim arbeitet als freie Publizistin und ständige Kolumnistin der „taz“ und der „Wiener Zeitung“.

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Die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmen

Das Titelthema des neuen Philosophie Magazins 06/2020 beschäftigt sich mit der neuen Arbeitswelt, die geprägt ist von Automatisierung, Homeoffice und Flexibilität. Wurde das Leben der meisten Menschen lange von der Arbeit beherrscht, scheint sich das Verhältnis langsam umzukehren. Mit dem Einzug der Arbeit ins eigene Heim löst sich die Grenze zwischen Arbeit und Leben auf. Vor allem in Start-ups, in den Medien und Digitalarbeit fallen die zeitlichen und räumlichen Grenzen der Erwerbsphäre weg. Dank dem Internet sollen die Arbeitnehmer immer und überall erreichbar sein. Während die Büros vie Homeoffice die eigene Wohnung heimsuchen, ähneln die Büros ihrerseits immer mehr Freizeitorten. Als Ideal gilt nicht mehr die sorgfältige Erfüllung einer vorgegebenen Aufgabe, sondern Kreativität. Insgesamt kommt es zur Aufwertung der Soft Skills.

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Die Genügsamkeit ist eine Begleiterin der Weisheit

Ein anderes Wort für jene Armut, von der Seneca redet, ist Selbstgenügsamkeit. Diese ist für ihn in Wirklichkeit keine Armut, sondern größter Reichtum. Albert Kitzler erläutert: „Ein unbezahlbarer und unverlierbarer Besitz ist für Seneca Friede und Ausgeglichenheit der eigenen Seele sowie Freude und Erfüllung, die aus dieser Harmonie der inneren Kräfte und Werte entspringen.“ Seneca kritisiert, dass vielen der Reichtum zum Hemmnis geworden ist, um sich mit Philosophie zu beschäftigen: „Willst du dem Geiste freie Bahn schaffen, so musst du entweder arm sein oder dem Armen ähnlich.“ Das Streben nach Weisheit kann seiner Meinung nach nur dann zum Heil führen, wenn die Genügsamkeit seine Begleiterin ist. Der Philosoph und Jurist Dr. Albert Kitzler ist Gründer und Leiter von „MASS UND MITTE“ – Schule für antike Lebensweisheit.

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Aus Zwischenräume schöpfen Menschen das Sinnliche

Die „Phänomene“ leben diesseits der Seele, aber jenseits der Dinge. Emanuele Coccia erklärt: „Der Ort, an dem die Dinge zu Phänomenen werden, ist also nicht die Seele, aber ebenso wenig deren eigene Existenz.“ Damit es Sinnfälliges und folglich Empfindung geben kann, schreibt Aristoteles, „muss es notwendig etwas geben, was dazwischen liegt“. Zwischen den Menschen und den Gegenständen gibt es immer einen Zwischenort, etwas, in dessen Schoß der Gegenstand sinnfällig wird, zum phainomenon. Aus diesem Zwischenraum schöpfen Lebewesen das Sinnliche, mit dem sie Tag und Nacht ihre Seele nähren. Auch um sich selbst zu beobachten, muss jeder Mensch notwendigerweise imstande sein, das eigene Bild außerhalb von sich selbst zu konstituieren – also in einem Außenraum. Emanuele Coccia ist Professor für Philosophiegeschichte an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris.

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Die Vernunft prägt die eigene Lebensführung

Der Mensch verdankt der Vernunft nicht nur die ins Unendliche ausgreifenden Ideen, sondern auch so gut wie alle ihn selbst betreffenden Einheiten der eigenen Lebensführung. Beispiele sind der Leib und seine Gesundheit, der Organismus in seiner prozeduralen Einheit. In dieser erneuert und verändert sich alles fortlaufend. Erst recht ist die Person für die Vernunftbegriffe der Menschheit und der Humanität von besonderer Bedeutung. Volker Gerhardt fügt hinzu: „Eine letzte, unüberbietbar praktische Bedeutung erlangt die Vernunft im ernsthaft verstandenen Begriff menschlicher Existenz.“ Dass auch sie mit den Mitteln der Vernunft als Ganzheit verstanden wird, ist offensichtlich. Aber das die Vernunft nicht nur als organisierende, sondern sogar als antreibende Kraft selbst bis zum tödlichen Ende begriffen werden, muss man sich erst vor Augen führen. Volker Gerhardt war bis zu seiner Emeritierung 2014 Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität in Berlin.

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Arthur Schopenhauer kennt sein „Ich“

Ich kenne mein „Ich“ durchaus, sagt Arthur Schopenhauer. Wenn er in sein Inneres hineinschaut, sieht er allerdings keine Vernunft. Sondern er erblickt eine Dynamik von Hunger, Begierde und Strebenskraft. Er sieht, dass darin alles zutiefst nach seinem Willen bewegt wird. Viel stärker als die Vernunft, die ihn mit Mühe in Schach zu halten versucht, offenbart sich der Wille als die tiefste Wahrheit des Dings-an-sich. Und das ist das Ich. Ger Groot ergänzt: „Damit offenbart sich auch, was die Wirklichkeit in sich selbst ist.“ Dank des Blicks, den Arthur Schopenhauer in die Realität seines „Ichs“ werfen kann, weiß er nun auch, wie diese Welt-an-sich aussieht. Sein Ich ist schließlich Teil dieser Wirklichkeit. Ger Groot lehrt Kulturphilosophie und philosophische Anthropologie an der Erasmus-Universität Rotterdam und ist Professor für Philosophie und Literatur an der Radboud Universität Nijmegen.

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Sinnerleben ist immer etwas Individuelles

Für das Thema Zuversicht ist laut Ulrich Schnabel das Erleben von Sinn von zentraler Bedeutung. Die Frage ist nur: Wie findet man den persönlichen Lebenssinn? Anders als so vieles andere in der unerschöpflichen Warenwelt kann man sich einen Sinn ja nirgendwo kaufen. Man kann noch nicht einmal, im Unterschied zur käuflichen Liebe, sich einen Sinn borgen oder sich eine Art Pseudosinn zulegen. Ulrich Schnabel weiß: „Denn eine echte Sinnerfahrung ist vor allem eines: eine Erfahrung und kein Gedankenkonstrukt. Sinn wird erlebt, nicht intellektuell erfasst.“ Entweder ein bestimmtes Tun fühlt sich sinnvoll für einen Menschen an – oder eben nicht. Und dieses Gefühl lässt sich nicht betrügen. Das bedeutet auch, dass ein Sinnerleben immer etwas Individuelles ist. Ulrich Schnabel ist seit über 25 Jahren Wissenschaftsredakteur bei der ZEIT.

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Das Vertrauen befindet sich weltweit in einer Krise

Jede Studie über Vertrauen fängt mit der großen Krise an. Das einflussreiche „Edelman Trust Barometer“ formuliert 2017 unumwunden: Überall auf der Welt befindet sich das Vertrauen in einer Krise. Martin Hartmann erläutert: „Ob Unternehmen, Regierungen, Nichtregierungsorganisationen oder die Medien – fast überall leiden diese Institutionen unter einem Vertrauensschwund.“ Entsprechend dramatisch und alarmistisch sind die Formulierungen: Das „System“ sei zerbrochen. Die Führungsebenen in Wirtschaft und Politik hätten an Glaubwürdigkeit verloren. Eine Welt des Misstrauens breite sich aus. Für die Daten von 2017 gilt dabei folgende Auffälligkeit: Vor allem die allgemeine Bevölkerung verliert ihr Vertrauen, während die Daten der Meinungsführer stabil bleiben oder sogar steigen. Die Diskrepanz zwischen den Eliten und der Bevölkerungsmehrheit bleibt hoch und scheint sich sogar zu vergrößern. Martin Hartmann ist Professor für Praktische Philosophie an der Universität Luzern.

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John Searle hat die Sozialontologie begründet

Die philosophische Teildisziplin der Sozialontologie hat insbesondere John Searle begründet und salonfähig gemacht. Sie beschäftigt sich mit der Frage, warum eigentlich manche Gegenstände und Tatsachen als „sozial“ gelten. Was unterscheidet einen Mondkrater von einem Geldschein oder einem Satz. Markus Gabriel antwortet: „Geld und Sätze gibt es nur im Kontext von Gruppendynamiken. Mondkrater hingegen gibt es einfach so, jedenfalls ohne Zutun menschlicher Gruppendynamiken.“ Was aber macht Geld zu etwas Sozialem, was Mondkratern fehlt. Der italienische Philosoph Maurizio Ferraris antwortet auf diese Frage auf eine unzureichende, wenn auch aufschlussreiche Weise. Er sagt, dass etwas genau dann sozial ist, wenn es ein Dokument gibt, dank dem es existiert. Seit 2009 hat Markus Gabriel den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne und ist dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.

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Die Aufklärung zielt auf den Bruch mit der Vergangenheit

Frei ist, wer in Wechselfällen und Umbrüchen des Lebens unerschütterlich und unaufgeregt bleibt. Frei sind auch diejenigen, die sich ihrer Maßstäbe sicher sind und selbstbewusst Erneuerungskraft und Reformfreude entfalten. Paul Kirchhof erläutert: „Gelassenheit wehrt sich nicht gegen das Neue, sondern vergleicht den Istzustand mit dem Reformvorhaben. Im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit soll die antike Welt wieder aufleben und auf die neue Welt der Renaissance einwirken.“ Das Mittelalter geht in das hellere Zeitalter der Aufklärung über. Die Renaissance sucht eine weltliche Kultur auszubilden. Die Reformation will das Verhältnis des einzelnen Menschen zu Gott zurückformen und erneuern. Dr. jur. Paul Kirchhof ist Seniorprofessor distinctus für Staats- und Steuerrecht an der Universität Heidelberg. Als Richter des Bundesverfassungsgerichts hat er an zahlreichen, für die Entwicklung der Rechtskultur der Bundesrepublik Deutschland wesentlichen Entscheidungen mitgewirkt.

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Frank Berzbach kennt die Welt des Tees

Einen Raum zwischen stark religiöser Prägung, Heiligkeit und Alltag eröffnet die magische Welt des Tees. Der Teetrinker gilt in Asien als eine an der Weisheit interessierte Person, suchend und sensibel und auf die Gastfreundschaft bezogen. Und vor allem nimmt er die Ereignisse nicht zu ernst, verzweifelt nicht an der Vergänglichkeit. Frank Berzbach ergänzt: „Orte, an denen Tee getrunken wird, werden mit Schönheit infiziert oder sind von ihr geprägt. Nun lässt sich in Europa, gemessen an dieser Ästhetik der Teeräume, nichts Ähnliches finden.“ Die Teeliteratur bildet in Ostasien eine eigene literarische Gattung. Beschrieben werden daoistische und zen-buddhistische Praktiken, die auf deren Ästhetik und zugleich auf den Alltag bezogen sind. Dr. Frank Berzbach unterrichtet Psychologie an der ecosign Akademie für Gestaltung und Kulturpädagogik an der Technischen Hochschule Köln.

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Das Sein ist ein Verantwortlichsein

Tatsache ist, dass Menschen sterblich sind, dass ihr Leben endlich und ihre Zeit begrenzt ist. Dies lässt es überhaupt sinnvoll erscheinen, etwas zu unternehmen, eine Möglichkeit zu nutzen und zu verwirklichen, die Zeit auszufüllen. Viktor Frankl erläutert: „Der Tod bedeutet den Zwang hierzu. So macht der Tod erst den Hintergrund aus, auf dem unser Sein eben ein Verantwortlichsein ist.“ Deshalb erweist es sich seiner Meinung nach im Wesentlichen als relativ unerheblich, wie lange ein Menschenleben dauert. Denn seine lange Dauer muss es noch lange nicht sinnvoll machen – und seine anfällige Kürze bei weitem nicht sinnlos. Viktor E. Frankl war Professor für Neurologie und Psychiatrie an der Universität Wien und 25 Jahre lang Vorstand der Wiener Neurologischen Poliklinik. Er begründete die Logotherapie, die auch Existenzanalyse genannt wird.

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Zorn entsteht oft durch eine Statusverletzung

In der von der Psychologin Carol Travis vorgelegten umfangreichen empirischen Untersuchung des Zorns finden sich überall Belege für „Kränkungen“, „Geringschätzigkeit“, „herablassendes Verhalten“ und eine „Behandlung, als hätte man keine Bedeutung“. Die Menschen sind heutzutage wie auch in früheren Zeiten ungemein besorgt um ihr Ansehen. Und sie haben eine endlose Bereitschaft, sich von Handlungen, die sie dem Anschein nach darin bedrohen, in Zorn versetzen zu lassen. Diese Art der empfundenen Herabsetzung bezeichnet Martha Nussbaum als „Statusverletzung“. Allein die Idee der Statusverletzung schließt bereits die Vorstellung einer Unrechtmäßigkeit ein. Denn Statusminderung ist gemeinhin beabsichtigt, wie schon der griechische Philosoph Aristoteles wusste. Martha Nussbaum ist Philosophin und Professorin für Rechtswissenschaften und Ethik an der University of Chicago. Sie ist eine der einflussreichsten Philosophinnen der Gegenwart.

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Jeder Mensch kann sein Leben sofort ändern

Jeder Mensch kann sich zu jedem Zeitpunkt seines Lebens dafür entscheiden, fortan anders zu leben als bisher. Gerald Hüther erklärt: „Etwas bewusster vielleicht, etwas achtsamer gegenüber sich selbst und auch anderen gegenüber. Mehr im Einklang mit sich und der Natur, zuversichtlicher und auch wieder etwas neugieriger.“ Es ist den Versuch wert und auch ganz einfach. Es ist beispielsweise nicht so schwer, die Lebensmittel, die man isst, sorgfältiger auszuwählen als bisher und sich gelegentlich auch körperlich zu betätigen. Es schadet nichts, wenn man dabei ins Schwitzen gerät. Wer sich darauf einlässt, beginnt auch wieder, sich zu spüren. Und damit kann jeder Mensch noch heute beginnen. Und wer sich auf diese Weise auf den Weg macht, beim dem entwickelt sich von ganz allein auch ein anderes Lebensgefühl. Gerald Hüther zählt zu den bekanntesten Hirnforschern in Deutschland.

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Nur das Begehren ruft die Liebe hervor

Theodor W. Adorno nennt die Liebe als möglichen Ausweg aus der Härte und Kälte. Seit Sokrates und Platon sowie später Jacques Lacan weiß man, dass nur der Mangel das Begehren antreibt und nur das Begehren Liebe hervorrufen kann. Isabella Guanzini fügt hinzu: „Die christlichen Gleichnisse haben jahrhundertelang gezeigt, dass nur ein Subjekt, das die eigene Verletzlichkeit anerkennt, fähig ist, um Vergebung zu bitten und Vergebung zu erteilen.“ Nur ein schutzlos ausgesetztes und verletztes Subjekt, das Verlassenheit und Gnade erfahren hat, kann sich einer echten Erfahrung von Liebe öffnen. Nur die Liebe des Feindes und das Vergeben einer zugefügten Kränkung kann die tödliche Kette der Rache und des andauernden Leids unterbrechen. Isabella Guanzini ist Professorin für Fundamentaltheologie an der Universität Graz.

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Autorität gibt der Gesellschaft eine Struktur

Wer Macht hat, hat das Sagen. Diese Verbindung spiegelt sich laut Philipp Hübl in den Metaphern wider, mit denen man über Macht spricht. Wer „gehorcht“, der hört auf jemanden. Und wem etwas „gehört“, der hat Verfügungsgewalt darüber. Die etymologische und inhaltliche Nähe zwischen hören, gehören und gehorchen findet sich in vielen indogermanischen Sprachen. Nur wenn jemand Ansagen macht, hat eine arbeitsteilige Gruppe oder Gesellschaft eine Struktur. Genau das regelt das Prinzip der Autorität. Schon John Stuart Mill hat im Jahr 1859 festgestellt, dass neben Fortschritt auch Ordnung und Stabilität Grundbedürfnisse des Menschen sind. Mill zählte zu den Gründervätern des Liberalismus. Philipp Hübl ist Philosoph und Autor des Bestsellers „Folge dem weißen Kaninchen … in die Welt der Philosophie“ (2012).

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Für das Strafrecht ist die Wahrheit von größter Bedeutung

Für das Strafen und das Strafrecht ist Wahrheit in verschiedener Hinsicht von Bedeutung: als Wahrheit des Geschehens und als Wahrheit von Verantwortung. Dabei ist vor allem auch wichtig, dass diese Wahrheitserkenntnisse in die Vergangenheit gerichtet sind. Thomas Fischer erklärt: „Strafrecht versucht, vergangenes Geschehen zu rekonstruieren und einer gegenwärtigen Verantwortung zuzuweisen.“ Dabei ist offensichtlich, dass die Wiederherstellung einer unmittelbaren Wirklichkeit eines Geschehensablaufs niemals im Verhältnis eins zu eins möglich ist. Jedes von menschlichem Handel geprägte Geschehen ist ein sehr komplexer Prozess von Bedingungen, Sinn, Motivation, Ursachen, Deutungen, Zwischen- und Endergebnissen. Schon die unmittelbare, zeitgleiche Aufnahme ist nur mit großen Abweichungen und Verständnisrisiken möglich. Die Gehirne von Menschen funktionieren nicht wie standardisierte digitale Maschinen, die miteinander über ein eindeutiges „Programm“ verbunden werden könnten. Thomas Fischer war bis 2017 Vorsitzender des Zweiten Senats des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe.

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Baruch de Spinoza lehrt den Pantheismus

Die Idee, das die Liebe weniger ein individuelles Gefühl, ein allein menschlichen Prinzip oder so sei, ist alt. Am prominentesten hat das der Philosoph Baruch de Spinoza dargestellt. Peter Trawny fasst es kurz und daher grob zusammen: „Spinoza erklärt, dass es nur eine Substanz, eine Natur, einen Gott, überhaupt nur eines geben könne. Da darum Gott und Natur, das heißt die Gesamtheit aller Dinge plus ihrem Ursprung, nicht zwei sein können, ist Gott Natur, Natur Gott.“ Man hat das dann Pantheismus genannt und als eine Lehre, dass Alles Gott und Gott Alles sei, verdammt und gefeiert. Für einen Christen des 17. Jahrhunderts war das gelinde gesagt mehr als unglaubwürdig. Peter Trawny gründete 2012 das Martin-Heidegger-Institut an der Bergischen Universität in Wuppertal, das er seitdem leitet.

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Dinge sind per se nicht wahrnehmbar

Das Sinnliche, das Sein des Bildes, hat keine ausschließlich psychische oder geistige Konsistenz. Denn wenn dem so wäre, bräuchten die Menschen nur die Augen zu schließen, um die Welt zu sehen, zu hören, zu schmecken. Emanuele Coccia fügt hinzu: „Wir bräuchten keine Geräusche, um zu hören. Und müssten uns auch nicht Haut an Haut unter die Gegenstände mischen, um ihre Oberfläche wahrnehmen zu können.“ Es wäre dann auch unnütz, Speisen auf die Zunge zu legen, um sie zu schmecken. Die Farbe der Dinge ist nicht das Licht, das am Grund des menschlichen Auges existiert. Und der Schimmer, den man beim Einschlafen stets wahrnimmt, erhellt nicht die Welt. Dieses Licht ist anderer Natur. Es stammt von außerhalb des eigenen Selbst. Emanuele Coccia ist Professor für Philosophiegeschichte an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris.

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Die sexuelle Befreiung räumt den Frauen mehr Autonomie ein

Die sexuelle Befreiung war von gesetzlichen Veränderungen begleitet. Diese räumten Frauen mehr Rechte und ihren Körpern mehr Autonomie und Handlungsmacht ein. Diese rechtliche und politische Revolution wurde von einer ökonomischen gestützt. In deren Zug infiltrierte und umgestaltete der Konsumentenmarkt weite Bereiche der Identität und des Selbst. Der Verbrauchermarkt und die Therapiekultur konnten den durch die negative Freiheit eröffneten leeren Raum mit etwas kolonialisieren. Dies bezeichnet Axel Honneth als „reflektive Freiheit“. Reflexive Freiheit erfordert von den Akteuren die Reflexion darüber, was sie wollen, und hält sie zu einer Hinterfragung ihres Willens an. In ihrem Mittelpunkt stehen die Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung der eigenen Wünsche und Subjektivität. Eva Illouz ist Professorin für Soziologie an der Hebräischen Universität von Jerusalem sowie Studiendirektorin am Centre européen de sociologie et de science politique de la Sorbonne.

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Die ionische Philosophie sucht nach dem Urstoff

Die erste philosophische Schule der Geschichte ist die ionische gewesen, die von Thales, Anaximander und Anaximenes. Diese Philosophen haben den „Urstoff“ aller Dinge gesucht: Bei Thales war es das Wasser, bei Anaximander das Aperion und bei Anaximenes die Luft. Carlo Rovelli fügt hinzu: „Über Thales ist nur wenig bekannt. Man weiß, dass er viel gereist ist und eine Rolle im politischen Leben von Milet spielte, wie auch Anaximander nach ihm.“ Man schreibt ihm wichtige Sätze der elementaren Geometrie zu. Vor allem soll er diese Sätze bewiesen haben. Als seine konzeptuelle Leistung gilt seine Anregung, nach dem Ursprung zu suchen. Nach dem Prinzip zu fahnden, das hinter allen natürlichen Phänomenen wirksam ist. Carlo Rovelli ist seit dem Jahr 2000 Professor für Physik in Marseille.

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Friedrich Nietzsche schaut nicht zurück

Es gibt Menschen, für deren Selbstentwurf die Zukunft wichtiger ist als die Vergangenheit. Diese Personen fragen nicht danach, was war. Stattdessen interessieren sie sich dafür, was werden wird und werden soll. Svenja Flaßpöhler gehört eher zu jenen, die zurückschauen, sich erinnern, das Gewesene immer wieder von allen Seiten betrachtet. Friedrich Nietzsche hätte sie für ihre Rückwärtsgewandtheit vermutlich verachtet. Svenja Flaßpöhler stellt sich die Frage, ob es nicht sein könnte, dass nur, wer sich ausreichend erinnert, im guten, ja tiefen Sinne vergessen und also verzeihen kann. Genau dieser Ansicht ist der französische Philosoph Paul Ricoeur, ein stark an Sigmund Freud orientierter Denker. Dr. Svenja Flaßpöhler ist seit Dezember 2016 leitende Redakteurin im Ressort Literatur und Geisteswissenschaften beim Sender „Deutschlandradio Kultur“.

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Disruption ist das Phänomen der Gegenwart

Disruption bedeutet „Bruch“, und überall sieht man heutzutage technologische Umbrüche. Alles wird digital, das ist neu und radikal. Viele Menschen denken bei Disruption an technologische Trends. Doch das ist zu kurz gedacht wie Andreas Barthelmess weiß: „Disruption ist viel mehr, sie ist das Phänomen unserer Zeit. Sie ist immer und überall und in allen Lebensbereichen: in Kultur und Konsum, Ökonomie und Gesundheit, Liebe und Ernährung – und vor allem in der Politik.“ Donald Trump und Greta Thunberg sind für Andreas Barthelmess zwei Seiten einer Medaille. Der Teufel mit Föhnfrisur, die Klima-Jeanne-d`Arc im Look von Pipi Langstrumpf. In einem haben die Hater und Spötter seiner Meinung nach recht: Chaoten und Heilsbringer, Narzissten und Autisten haben Konjunktur, und das global. Andreas Barthelmess ist Ökonom, Start-up-Unternehmer und Publizist.

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