Die Sexualität wird als Praxis der Freiheit gelebt

In ihrem Buch „Sexualität. Eine sehr kurze Einführung“ fragt die Soziologin Véronique Mottier: „Wie kommt es, dass die Sexualität für unser Selbstverständnis derart zentral geworden ist?“ Eva Illouz glaubt, die Antwort auf diese Frage lautet im Kern: „Unsere Sexualität wird als der Wert und die Praxis der Freiheit gelebt. Einer Freiheit, die umso mächtiger und allgegenwärtiger ist, als sie an den unterschiedlichsten Schauplätzen institutionalisiert wurde.“ Wenn Eva Illouz von Freiheit im Allgemeinen und emotionaler beziehungsweise sexueller Freiheit im Besonderen spricht, bezieht sie sich nicht auf das glanzvolle moralische Ideal, das den Leitstern der demokratischen Revolutionen bildete. Eva Illouz ist Professorin für Soziologie an der Hebräischen Universität von Jerusalem sowie Studiendirektorin am Centre européen de sociologie et de science politique de la Sorbonne.

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Die Familie ist den Deutschen heilig

Der irische Managementpsychologe Charles Handy empfahl seinem Sohn, als er von dessen Heiratsplänen erfuhr: „Sei auf der Hut. Du wirst nicht nur die Liebe deines Lebens, sondern eine ganze Familie heiraten. Du solltest besser herausfinden, worauf du dich einlässt. Familien sind wichtig.“ Mittlerweile wird die „ganze Familie“ in einer Gesellschaft des langen Lebens immer unverzichtbarer. Horst Opaschowski erklärt: „Ob es uns gefällt oder nicht: Wir brauchen die Familie – für eine gemeinsame Zukunft. Unternehmen können uns kündigen. Nachbarn und Freunde ziehen weg, aber die Familie ist immer da, wenn man sie braucht.“ Horst Opaschowski gründete 2014 mit der Bildungsforscherin Irina Pilawa das Opaschowski Institut für Zukunftsforschung. Bis 2006 lehrte er als Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Hamburg. Ab 2007 leitete er die Stiftung für Zukunftsfragen.

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Vorhersehbarkeit ist eine fundamentale Dimension sozialer Interaktionen

Für den Soziologen und Gesellschaftstheoretiker Niklas Luhmann ist die Reduktion von Komplexität und Ungewissheit ein grundlegender Bestandteil sozialer Prozesse. Eva Illouz erläutert: „Liebe ist – wie Wahrheit, Geld oder Macht – ein Kommunikationsmedium, das dabei hilft, Erwartungen zu erzeugen, eine Entscheidung unter vielen möglichen anderen auszuwählen, Motivationen mit Handlungen zu verbinden sowie Gleichheit und Vorhersehbarkeit in Beziehungen zu schaffen.“ Ein solches Medium der Kommunikation bringt Rollen hervor, die wiederum erwartete Ergebnisse produzieren. Vorhersehbarkeit ist eine fundamentale Dimension sozialer Interaktionen, die beispielsweise in Riten besonders deutlich zum Ausdruck kommt. Wenn Interaktionen ritualisiert werden, erzeugen sie Gewissheit über die Beziehungsdefinition der Akteure, über ihre Position in einer solchen Beziehung und über die dazugehörigen Verhaltensregeln. Eva Illouz ist Professorin für Soziologie an der Hebräischen Universität von Jerusalem sowie Studiendirektorin am Centre européen de sociologie et de science politique de la Sorbonne.

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Ungewissheit zählt zur Grunderfahrung des Menschen

Sehr viele Menschen leben heute in Gesellschaften, in denen sich Veränderung mit einer so hohen Geschwindigkeit vollziehen, dass sie den Überblick zu verlieren drohen. Frühere Gesellschaften boten ihren Mitgliedern bei allen stürmischen Entwicklungen und Zumutungen immer noch einen relativ stabilen Orientierungs- und Entfaltungsrahmen, der für Überblick, Strukturierung, Klarheit, Abschätzbar- und Überschaubarkeit der individuellen Lebensführung einigermaßen Sorge trug. Ernst-Dieter Lantermann erklärt: „Diese Lebensgewissheiten kann eine moderne Gesellschaft nicht mehr leisten. Ungewissheit und Unsicherheit sind zu Grunderfahrungen von uns allen geworden, ob wir dies nun gutheißen oder nicht.“ Der Historiker Heinrich August Winkler spricht von einem „Zeitalter der allgemeinen Verunsicherung“, der Philosoph Zygmunt Baumann von einer „fluiden“ Gesellschaft, in der alles im Fluss sei und keine Stabilitäten mehr Geltung hätten. Ernst-Dieter Lantermann war von 1979 bis 2013 Professor für Persönlichkeits- und Sozialpsychologie an der Universität Kassel.

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Die modernen Identitäten sind von sozialer Natur

Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts hätte niemand, der nach der Identität eines Menschen fragte, die Kategorien race, Gender, Nationalität, Region oder Religion erwähnt. Früher war die Identität etwas ganz Besonderes und Persönliches. Kwame Anthony Appiah vergleicht dies mit der Gegenwart: „Die Identitäten, an die wir heute denken, haben wir dagegen meist mit Millionen oder Milliarden anderen Menschen gemeinsam. Sie sind von sozialer Natur.“ In den sozialwissenschaftlichen Theorien des frühen 20. Jahrhunderts sucht man nach solchen Identitäten vergebens. In seinem 1934 veröffentlichten Buch „Mind, Self, and Society“ skizzierte George Herbert Mead eine einflussreiche Theorie des Selbst als Produkt eines „Ich“, das auf die sozialen Anforderungen der anderen reagiert und durch deren Verinnerlichung das „Mich“, wie er dies nannte, herausbildet. Professor Kwame Anthony Appiah lehrt Philosophie und Jura an der New York University.

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Die Moderne scheint von negativen Beziehungen bestimmt zu sein

Für die Zeit vom 16. bis zum 20. Jahrhundert konstatieren die Soziologen der Moderne die Ausbreitung der Kultivierung neuer Beziehungsformen auf alle gesellschaftlichen Gruppen. Dazu zählen, Eva Illouz nennt nur einige, die Liebesheirat, die selbstlose oder uneigennützige Freundschaft, das mitfühlende Verhältnis zum Fremden und die nationale Solidarität. Alle diese Formen können ihrer Meinung nach gleichermaßen als neue soziale Verhältnisse, neue Institutionen und neue Gefühle bezeichnet werden. Gemeinsam ist ihnen, dass sie durchweg auf einer Wahl beruhen. In der frühen Neuzeit wurde somit die Freiheit zu wählen institutionalisiert, wobei die Individuen ihre Freiheit in der Verfeinerung der Praxis des Wählens erfuhren, die als eine emotionale erlebt wurde. Eva Illouz ist Professorin für Soziologie an der Hebräischen Universität von Jerusalem sowie Studiendirektorin am Centre européen de sociologie et de science politique de la Sorbonne.

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Gated Communities sind auch in Deutschland auf dem Vormarsch

Nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland werden Gated Communities oder geschlossene Wohnkomplexe immer beliebter. Bis vor wenigen Jahren war diese Wohnform hierzulande noch weitgehend unbekannt. Wohnsoziologen und Kulturgeografen, die sich mit diesem Phänomen beschäftigen, sind sich sicher, dass die Entwicklung hin zu abgeschlossenen Wohnen auch in Deutschland kaum aufzuhalten sein wird. Ernst-Dieter Lantermann erklärt: „ Geschlossene Wohnkomplexe sind abgeschirmte und bewachte Wohnkomplexe mit Zugangsbeschränkungen, die in zwei Varianten gebaut werden – als Apartmentanlagen oder als Ensembles von Häusern und Eigentumswohnungen auf einem von der näheren Umgebung abgesonderten Territorium.“ „Arcadia“, die deutschlandweit erste Gated Community wurde in Potsdam errichtet, 45 Wohnungen und sieben Villen stehen auf einem parkähnlichen Grundstück in bester Lage. Ernst-Dieter Lantermann war von 1979 bis 2013 Professor für Persönlichkeits- und Sozialpsychologie an der Universität Kassel.

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Gesellschaften funktionieren nicht nach „natürlichen“ Gesetzen

Normativität und Moral entstehen aus der Wirklichkeit des Lebens, weil und indem sie sie strukturieren. Die meisten Menschen handeln fast stets mit „Sinn“, und menschliches Handeln hat daher nicht nur eine Wirkung in der physischen Außenwelt, sondern auch immer „Sinn“ in der Kommunikation. Thomas Fischer fügt hinzu: „Die schönste Moral nutzt nichts, wenn sie sich im Appell erschöpft, die Umwelt und die anderen mögen sich bitte der Moral des Sprechers gemäß verhalten.“ Um die Moralen herum sind daher von Anfang an Strukturen und Mechanismen gebaut, die eine „herrschende“ Moral hervorbringen und stabilisieren können. „Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“, definierte Max Weber. Thomas Fischer war bis 2017 Vorsitzender des Zweiten Senats des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe.

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Georg Simmel analysiert das Großstadtleben

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts analysierte der Soziologe und Philosoph Georg Simmel das Großstadtleben und erkannte darin die spezifischen Anzeichen der Moderne. Isabella Guanzini erläutert: „In seinem kleinen Text „Die Großstädte und das Geistesleben“ von 1903 analysiert Georg Simmel die radikalen Veränderungen von Empfindung und Wahrnehmung der Individuen, die in der Großstadt leben, um zu verstehen, was die Seele der Stadt auf individueller und überindividueller Ebene ausmacht.“ Die charakteristische psychische Veränderung des modernen Individuums sieht Georg Simmel in der „Steigerung des Nervenlebens“, die aus raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht. Das Großstadtleben ist eine Zusammenballung emotionaler Reize, die Aufmerksamkeit fordern und ständig auf die subjektive Seele einstürmen, die sie verarbeiten und auf sie reagieren muss. Isabella Guanzini ist Professorin für Fundamentaltheologie an der Universität Graz.

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Kultur ist die Summe intellektueller Errungenschaften

Dass das Wort „Kultur“ auf das Universum der Ideen angewandt wird, hat die Menschheit Cicero und dem alten Rom zu verdanken. Cicero beschrieb mit dem Wort das Heranziehen der Seele – „cultura animi“; dabei dachte er offensichtlich an den Ackerbau und sein Ergebnis, die Vervollkommnung und Verbesserung des Pflanzenwachstums. Was für das Land gilt, kann demnach genauso auch für den Geist gelten. Antonio Damasio schreibt: „An der heutigen Hauptbedeutung des Wortes „Kultur“ gibt es kaum Zweifel. Aus Wörterbüchern erfahren wir, dass Kultur eine Sammelbezeichnung für Ausdrucksformen intellektueller Errungenschaften ist, und wenn nichts anderes gesagt wird, meinen wir damit die die Kultur der Menschen.“ Antonio Damasio ist Professor für Neurowissenschaften, Neurologie und Psychologie an der University of Southern California und Direktor des dortigen Brain and Creative Institute.

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In der modernen Gesellschaft sind viele Menschen tief verunsichert

Ein Übermaß an Liberalität und Egalitarismus reduziert die menschliche Gemeinschaft auf die engen Grenzen der häuslichen Sphäre. Die große Gesellschaft ist sich selbst überlassen, letztlich jedoch ist der Einzelne dem Konformismus der öffentlichen Meinung unterworfen. Isabelle Guanzini stellt fest: „Die demokratische Gleichheit löst gesellschaftliche Fesseln und überlässt das Individuum dem Despotismus einer „gewaltigen, bevormundenden Macht“, die in bürokratischen Systemen und neuen Intoleranzen gegenüber Differenzen und Abweichungen besteht.“ Die konformistische Leidenschaft der modernen Gesellschaft braucht keine Gewalt anzuwenden, um das Gewissen der Menschen zu konditionieren und ihnen Normen aufzuzwingen. Sie benutzt „milde“ Praktiken der Disziplinierung, die auf eine unbewusste Verinnerlichung ihrer Dispositive zielen. So wirken sie, ohne reflektiert zu werden. Isabella Guanzini ist Professorin für Fundamentaltheologie an der Universität Graz.

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Eine moderne Gesellschaft prägen Konflikte und Kontroversen

Gestützt auf die Erfahrung der Vereinigten Staaten von Amerika mit ihrer langen Geschichte religiöser und ethnischer Vielfalt, entwickelt der amerikanische Wissenschaftler Lee Bollinger die These, dass die freie Meinungsäußerung „unsere Fähigkeit auf die Probe stellt, in einer Gesellschaft zu leben, die unvermeidlich von Konflikten und Kontroversen geprägt ist; sie schult uns in der Kunst der Toleranz und wappnet uns gegen die Wechselfälle [einer solchen Gesellschaft]“. Da die Menschen äußerst verschieden sind, werden sie sich nicht alle für das gleiche Leben entscheiden. Sie werden nicht alle einig sein. Timothy Garton Ash erklärt: „Wie schon Immanuel Kant wusste, würde die menschliche Gesellschaft stagnieren und wäre einfältig, wenn wir das täten.“ Der britische Zeitgeschichtler Timothy Garton Ash lehrt in Oxford und an der kalifornischen Stanford University.

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Fremdenfeindlichkeit gedeiht vor allem in unsicheren Gesellschaften

Fremdenfeindliche Einstellungen und Überzeugungen gedeihen besonders gut in einer Gesellschaft, die ihres Zusammenhalts nicht mehr gewiss ist und daher ihren Mitgliedern keinerlei Sicherheitsversprechen mehr anbieten kann. Dieter-Lantermann fügt hinzu: „So muss jeder selbst für seine eigenen Sicherheiten sorgen, ohne Netz und doppelten Boden, ohne die Gewissheit einer festen sozialen Verortung, ohne selbstverständlich geltende Normen, Verhaltensregeln und Handlungsorientierungen, die das Miteinander in der Gesellschaft verlässlich und berechenbar organisieren und leiten. Menschen, die sich ihrer sozialen und gesellschaftlichen Zughörigkeit, Wertschätzung und sozialen Identität unsicher geworden sind, neigen häufig zu zugespitzten fremdenfeindlichen Haltungen, von denen sie sich neue soziale und persönliche Sicherheiten versprechen. Auf die Frage worin der „Sicherheitsgewinn“ solcherart radikaler Haltungen gegenüber Zuwanderern aus fremden Ländern und Kulturen liegt, weiß Ernst-Dieter Lantermann eine Antwort. Ernst-Dieter Lantermann war von 1979 bis 2013 Professor für Persönlichkeits- und Sozialpsychologie an der Universität Kassel.

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Gefühle können Unsicherheit und Chaos bewirken

Die Institutionalisierung der sexuellen Freiheit mittels Konsumkultur und Technologie hat folgenden Effekt gehabt. Eva Illouz kennt ihn: „Sie hat jegliche Gewissheit über die Substanz, den Rahmen und das Ziel sexueller und emotionaler Verträge grundlegend erschüttert.“ Was Eva Illouz die negative Struktur zeitgenössischer Beziehungen nennt, ist die Tatsache, dass die Akteurinnen nicht wissen, wie sie die Beziehung definieren, bewerten oder führen sollen, die sich nach vorhersehbaren und tragfähigen sozialen Drehbüchern beginnen. Die sexuelle und die emotionale Freiheit haben die bloße Möglichkeit, die Bedingungen eines Verhältnisses zu definieren, zu einer offenen Frage und zu einem Problem gemacht, das gleichermaßen psychologischer wie soziologischer Natur ist. Eva Illouz ist Professorin für Soziologie an der Hebräischen Universität von Jerusalem sowie Studiendirektorin am Centre européen de sociologie et de science politique de la Sorbonne.

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Einzigartigkeit und Authentizität sind eng miteinander verknüpft

Während der Konsument von funktionalen Gütern erwartet, dass sie einen Nutzen erfüllen, erwartet er von kulturell-singulären Gütern Authentisches. Andreas Reckwitz nennt Beispiele: „Authentisch soll der Urlaubsort sein – und ebenso die Politikerin, der Yoga-Kurs, die Musik oder das Essen.“ Entsprechend ist der Prozess der Singularisierung der Güter zugleich immer ein Prozess der Authentifizierung, das heißt der Beobachtung, der Bewertung, Hervorbringung und Aneignung als authentisch. Die spätmoderne Ökonomie ist eine Ökonomie von Authentizitätsgütern. Nun ist Authentizität ein vieldeutiger Begriff, der nicht zufällig aus dem semantischen Pool der Romantik stammt. Bereits in diesem historisch-kulturellen Kontext waren Einzigartigkeit und Authentizität eng miteinander verknüpft. Das Authentische erscheint beispielsweise bei Jean-Jacques Rousseau als das Gegenteil des Künstlichen. Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt / Oder.

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Die Moderne hält das Individuum in ständiger innerer Unruhe

Als einer der ersten Soziologen hat Anthony Giddens das Wesen der emotionalen Moderne herausgearbeitet. Eva Illouz erläutert: „Er betrachtet Intimität als ultimativen Ausdruck der Freiheit des Individuums, seine Loslösung aus älteren Bezugssystemen der Religion, der kulturellen Traditionen sowie der Ehe als Rahmenbedingung des wirtschaftlichen Überlebens.“ Für Anthony Giddens besitzen Individuen die Ressourcen, um die Fähigkeit, gleichzeitig autonom und intim zu sein, aus sich selbst heraus zu gestalten. Der Preis, der dafür zu zahlen ist, besteht ihm zufolge in einem Zustand der „ontologischen Unsicherheit“, der das Individuum in ständiger innerer Unruhe hält. Eva Illouz ist Professorin für Soziologie an der Hebräischen Universität von Jerusalem sowie Studiendirektorin am Centre européen de sociologie et de science politique de la Sorbonne.

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Viele Deutsche fühlen sich von Menschen aus fremden Kulturen bedroht

Da die Mittel im Zuge gesellschaftlicher Veränderungen immer knapper werden, der Überlebenskampf in diesen riskanten Zeiten auch noch ihre letzten inneren und äußeren Ressourcenverbraucht, erfahren immer mehr Menschen die gesellschaftlichen Zustände als eine Bedrohung ihres Selbstwertgefühls. Ernst-Dieter Lantermann erklärt: „Wenn persönliche und soziale Unsicherheiten infolge unberechenbarer Entwicklungen weiter zunehmen und gleichzeitig auf die politischen, sozialen und persönlichen Ressourcen kein Verlass mehr zu sein scheint, ist ein gesellschaftliches Radikalisierungsmoment erreicht, das eine Eigendynamik mit großer Sogwirkung entwickeln kann, sodass eine Radikalisierung von immer mehr Bevölkerungsgruppen in Deutschland kaum noch abzuwenden wäre.“ In den feindseligen Ablehnungen von Migranten, Flüchtlingen und Asylsuchenden, wie sie spätestens seit Mitte 2015 ungehemmt auch öffentlich zur Schau gestellt wird, spiegeln sich tiefgreifende persönliche Erschütterungen in diesen Zeiten beschleunigter gesellschaftlicher Umbrüche wider. Ernst-Dieter Lantermann war von 1979 bis 2013 Professor für Persönlichkeits- und Sozialpsychologie an der Universität Kassel.

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In der Stadt werden die Modelle des Zusammenlebens definiert

Im letzten Jahrhundert ist die Stadt zum wichtigsten Ort des Zusammenlebens geworden. Isabella Guanzini erläutert: „Wie ein Magnet mit anziehenden und abstoßenden Kräften wirkt sie in den Beziehungen, Spannungen und Widersprüchen der Menschen.“ Die vorangegangenen Generationen lebten, zeugten und arbeiteten im ländlichen Raum überall in der Welt verteilt und knüpften so ein Netz aus Koexistenz mit weiteren und stabileren Maschen. Erst vor wenigen Jahren hat das Phänomen der Urbanisierung eine symbolische Schwelle überschritten: Zum ersten Mal in der Geschichte übertraf der in den Städten lebende Anteil der Weltbevölkerung jenen im ländlichen Raum. Die Konzentration von Bevölkerung und in den urbanen Gebieten scheint inzwischen ein unumkehrbarer Prozess zu sein, auch wenn dabei einige Gebiete einen Aufschwung erfuhren, andere hingegen einen starken Niedergang. Isabella Guanzini ist Professorin für Fundamentaltheologie an der Universität Graz.

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Man geht in die Gesellschaft wie in die Fremde

Thea Dorn rät: „Um Licht ins Dunkel des Wir-Begriffs zu bringen und zu begreifen, welches Wir Herz und Geist berührt und welches Wir lediglich den Verstand oder die Eigeninteressen anspricht, hilft es, sich die Unterschiede zu vergegenwärtigen, die der deutsche Soziologe, Nationalökonom und Philosoph Ferdinand Tönnies bereits Ende des 19. Jahrhunderts zwischen der „Gesellschaft“ und der „Gemeinschaft“ herausgearbeitet hat.“ Unter „Gemeinschaft“ versteht er jede Gruppe, die sich durch „reales und organisches Leben“ miteinander verbunden fühlt. Demgegenüber beruhe jede „Gesellschaft“ auf „ideeller und mechanischer Bildung“. Im ersten Paragrafen seines epochalen Werks „Gemeinschaft und Gesellschaft“ von 1887 stellt Ferdinand Tönnies fest: „Alles vertraute, heimliche, ausschließende Zusammenleben wird als Leben in Gemeinschaft verstanden.“ Thea Dorn studierte Philosophie und Theaterwissenschaften. Sie schrieb eine Reihe preisgekrönter Romane, Theaterstücke und Essays.

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Der Mittelschicht droht der soziale Abstieg

Fast alle Deutschen wünschen sich einen Platz in der Mittelschicht. Sie war und ist der Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält. In den 50er Jahren rief der Soziologe Helmut Schelsky die Bundesrepublik zur „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ aus. Alexander Hagelüken erläutert: „Das kennzeichnete eine Gesellschaft, in der die Unterschiede zwischen Kapitalisten und Arbeitern nicht mehr so groß waren wie in den 150 Jahren der Industrialisierung davor.“ Aufstieg war möglich, Arbeiter konnten als Facharbeiter einen Platz in der Mittelschicht ergattern. Dazu gehörte auf jeden Fall die Vorstellung, dass man besser leben würde als die eigenen Eltern. Und den eigenen Kindern sollte es noch besser gehen. Weil Aufstieg möglich war oder sogar wahrscheinlich, schuf dies eine nachhaltige Zufriedenheit mit dem Wirtschaftssystem der Bundesrepublik Deutschland. Alexander Hagelüken ist als Leitender Redakteur der Süddeutschen Zeitung für Wirtschaftspolitik zuständig.

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Die Todesgefahr ist die extremste Bedrohung der Meinungsfreiheit

„Wenn du das sagst, bringen wir dich um.“ Dieser Satz verkörpert die extremste Bedrohung der Meinungsfreiheit. In Europa leben Tausende von Menschen versteckt oder fürchten um ihr Leben, weil sie von gewaltbereiten Islamisten, Mafiosi unterschiedlicher Couleur, mächtigen Interessengruppen, gewalttätigen Verwandten oder unterdrückerischen Regimen Todesdrohungen erhalten haben. Noch sehr viel höher sind diese Zahlen in Afrika, im Nahen Osten und in Teilen Asiens. Timothy Garton Ash formuliert dagegen folgendes Prinzip: „Weder drohen wir mit Gewalt, noch akzeptieren wir gewaltsame Einschüchterung.“ Doch in der Politik kann eine solche Strategie der Beschwichtigung am Ende auch den gegenteiligen Effekt bewirken. In diesem Sinne kann, wer sich gewaltsamer Einschüchterung beugt, eben dadurch den Anreiz liefern, noch mehr mit Gewalt zu drohen. Timothy Garton Ash ist Professor für Europäische Studien an der Universität Oxford und Senior Fellow an der Hoover Institution der Stanford University.

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Das Lesen erschafft einen neuen Menschen

Es wäre für Emmanuel Todd irrig, im Lernen des Lesens nur den Erwerb einer Technik zu sehen: „Wie schon heutige Messungen zeigen, steigert ein frühzeitiges und intensives Lesen die Gehirnleistung.“ Sicher lernen intelligente Kinder schneller lesen, aber noch wichtiger für das Verständnis der Menschheitsgeschichte ist die Erkenntnis, dass das Lesen vor allem die Kinder intelligenter macht. Wie beim Erwerb einer Fremdsprache eignet man sich diese Fähigkeit deutlich leichter vor als nach der Pubertät an. Man kann durchaus sagen, dass die Alphabetisierung das menschliche Gehirn in einer entscheidenden Phase seiner Entwicklung nachhaltig verändert hat. Das Lesen erschafft einen neuen Menschen. Es schafft einen neuen Bezug zur Welt, ermöglicht eine komplexere Innerlichkeit und verändert – im Guten wie im Schlechten – die Persönlichkeit. Emmanuel Todd ist einer der prominentesten Soziologen Frankreichs.

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Heimat ermöglicht die Erfahrung von Transzendenz

Heimat ist gleichermaßen Raum wie Idee religiöser Rückbezüglichkeit. Ihre Möglichkeit zur Bewältigung diverser Ambivalenzen ermöglicht vielen Individuen, welcher Religion auch immer, eine Religiosität ohne Gottesbezug. Christian Schüle erläutert: „Die spätmoderne, dauererregte, beschleunigte in ihrer Multioptionalität bedrängende Lebenswelt ist gekennzeichnet durch einen hohen Grad Paradoxien.“ Heimat als emotional erinnerbare Gegenwart hingegen ist ein fundamentales Versprechen auf Reduktion der Komplexitäten durch Kohärenz: auf den sinnstiftenden Einklang von Selbst und Umwelt, der Ambivalenzen ja gerade auflöst. In der Reduktion eignet Heimat sich als Schutzraum, der ermöglicht, was kaum noch vermittelbar ist: Transzendenz-Erfahrung. Heimat ist auch das, was sich auf Dauer durch sich selbst bewährt. Sie erhält Geltung durch die Bindung des Menschen an Orte, Böden, Rituale, die durch die Biografie beglaubigt sind. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

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Drei Faktoren transformieren die Moderne zur Spätmoderne

In der Spätmoderne wird die soziale Logik der Singularisierungen, die zugleich eine der Kulturalisierung und der Intensivierung der Affekte ist, zu einer für die gesamte Gesellschaft strukturbildenden Form. Andreas Reckwitz erläutert: „Die Transformation von der organisierten Moderne zur Spätmoderne verdankt sich einer historischen Koinzidenz dreier Faktoren, die sich seit den 1970er Jahren gegenseitig verstärken. Die drei Faktoren sind: die sozio-kulturelle Authentizitätsrevolution, getragen vom neuen Stil der Mittelklasse; die Transformation der Ökonomie hin zu einer postindustriellen Ökonomie der Singularitäten; und die technische Revolution der Digitalisierung.“ Seit den 1970er Jahren findet in der bisherigen Industriegesellschaften ein fundamentaler sozialstruktureller Wandel statt, der zugleich ein Kultur- und Wertewandel ist. Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt / Oder.

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Die Naturverbundenheit der Bayern ist legendär

Der Stolz auf die Heimat, Freistaats-Patriotismus und die Verhaftung an Traditionen führen vornehmlich im Bundesland Bayern zu einem, man darf schon sagen, überaus „angemessenen Selbstbewusstsein“. Christian Schüle schreibt: „Der Bezug zur vermeintlichen Ewigkeit des eigenen Existierens lässt sich bis heute am ostentativen Sprachgebrauch des latinisierten Begriffs „Bavaria“ ablesen, als wäre man auf Augenhöhe mit dem längst untergegangenen Römischen Reich, das bekanntlich nur wenige ausgesuchte Volksgruppen überdauert haben.“ Das so geschichtsträchtige wie stolze Bayern ist jene deutsche Region mit dem stärksten Bewusstsein seiner eigenen Sichtbarmachung. In Bavaria übersetzt man den Begriff der Heimat bündig mit „Dahoam“ und meint nicht das Heim, sondern vor allem das „Da!“, nämlich: dort in Bayern. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

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