Die Veränderung ist keine Illusion

Die Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist keine Illusion. Carlo Rovelli erklärt: „Sie ist die Zeitstruktur der Welt, auch wenn sie nicht die des Präsentismus ist. Die zeitlichen Beziehungen zwischen Ereignissen sind komplexer, als wir einst dachten, aber deswegen keineswegs trügerisch.“ Die Beziehungen der Abstammung bilden keine globale Ordnung, sind aber deswegen nicht illusorisch. Die Veränderung, das Geschehen, ist keine Illusion. Die Physik hat nur entdeckt, dass sie sich nicht nach einer allumfassenden globalen Ordnung vollzieht. Was ist „real“? Was „existiert“? Die Antwort von Carlo Rovelli lautet: „Die Frage ist falsch gestellt, weil sie alles und nichts besagt.“ Denn das Adjektiv „real“ hat tausend Bedeutungen. Und ihrer noch mehr hat das Wort „existieren“. Seit dem Jahr 2000 ist Carlo Rovelli Professor für Physik an der Universität Marseille.

Die Natur existiert

Die Menschen äußern auf unterschiedliche Arten, dass eine Sache existiert: ein Gesetz, eine Nation, eine große Liebe, eine Zahl … All dies „existiert“ und ist in einem jeweils unterschiedlichen Sinn „real“. Man kann sich fragen, in welcher Hinsicht etwas existiert oder nicht existiert, oder ob etwas in einem bestimmten Sinn existiert. Danach zu fragen, was existiert oder was real ist, heißt lediglich, danach zu fragen, in welcher Bedeutung man ein Verb und ein Adjektiv gebrauchen will.

Es ist eine semantische Frage, keine zur Natur. Dagegen ist die Natur diejenige, die ist und der die Wissenschaften in kleinen Schritten immer weiter auf die Spur kommen. Es kommt dabei vor, dass die Grammatik und die Intuition nicht zu dem passen, was Wissenschaftler entdecken. Dann müssen sie eben versuchen, sie an diese Entdeckungen anzupassen. Die Grammatik zahlreicher moderner Sprachen konjugiert die Verben in den Formen „Gegenwart“, „Vergangenheit“ und „Zukunft“.

Die Grammatik ist unzulänglich

Carlo Rovelli weiß: „Sie ist ungeeignet, um über die reale Zeitstruktur der Welt zu reden, weil diese deutlich komplexer ist.“ Die Grammatik hat sich aus den begrenzten Erfahrungen der Menschen heraus entwickelt. Dann hat die Physik erkannt, wie ungenau sie ist, wenn es darum geht, die reichhaltige Struktur der Welt zu erfassen. Die Struktur der Realität ist nicht so, wie es diese Grammatik voraussetzt. Die Menschen reden davon, dass ein Ereignis „ist“, „war“ oder „sein wird“.

Den Menschen fehlt eine angemessene Grammatik, um auszudrücken, dass ein Ereignis relativ zur eigenen Person ist oder relativ zu einem anderen „stattgefunden hat“. Von einer unzulänglichen Grammatik darf man sich jedoch nicht verwirren lassen. In einer Schrift aus der antiken Welt, in der von der Kugelgestalt der Erde die Rede ist, heißt es: „Für diejenigen, die unten sind, sind die Dinge oben unten, währen die Dinge unten oben sind … Und so verhält es sich rund um die Erde.“ Quelle: „Die Ordnung der Zeit“ von Carlo Rovelli

Von Hans Klumbies