Die Griechen entdecken die Wissenschaft

Die Griechen fanden ihre kulturelle Identität in den Versen Homers, die ihre glorreiche Vergangenheit besangen. Doch Homers Götter waren literarische Subjekte, weder sehr glaubwürdig noch wirklich majestätisch. Es ist schon behauptet worden, es gäbe kein Gedicht, das weniger religiös sei als die „Ilias“. Carlo Rovelli stellt fest: „In dieser Welt ohne Zentrum, ohne starke Götter, steht alles offen und ist bereit für eine andere Art des Denkens.“ Es gibt daher eine klare Beziehung zwischen den neuen sozialen und politischen Situation und der Geburt des wissenschaftlichen Denkens. Die Gemeinsamkeiten sind für Carlo Rovelli offensichtlich. Erstens gehört dazu die Säkularisierung. Das heißt, die Idee, dass die Gesetze und Vorstellungen der Alten nicht zwangsläufig die besten sind. Seit dem Jahr 2000 ist Carlo Rovelli Professor für Physik an der Universität Marseille.

Eine Mehrheit trägt die Entscheidungen

Die besten Entscheidungen können aus Diskussionen erwachsen und nicht aus der Autorität eines Herrschers oder der Ehrfurcht vor der Tradition. Die öffentliche Kritik eines Vorschlags ist nötig, um dessen Schwächen offenzulegen. Man kann Argumente vorbringen und zu einer gemeinsamen Lösung kommen. In gewisser Weise handelt es sich dabei um die „Entdeckung“ der naturwissenschaftlichen Methode. Jemand hat eine Idee und schlägt eine Erklärung für ein bestimmtes Phänomen vor.

Aber der Prozess endet damit nicht. Diese Idee wird ernsthaft diskutiert und kritisiert. Dann schlägt jemand eine andere Idee vor, und man vergleicht sie mit der ersten. Das Außerordentliche dabei ist, dass dieser Prozess zu einer Einigung führen kann. Auf diese Weise kann eine Gruppe von Personen zu einer gemeinsamen oder zumindest einer mehrheitlichen Überzeugung gelangen. Und damit kommt sie zu einer effektiven und geteilten Entscheidung.

Das religiöse Denken setzt sich wieder durch

Es führt nicht zu einer ergebnislosen Kakophonie, wenn man der Kritik freien Lauf lässt und Dinge in Frage stellt. Jeder darf an der Diskussion teilhaben und man sollt alle Vorschläge ernst nehmen. Dieses Verfahren führt zum Zurückweisen schwacher Hypothesen und zum Herauskristallisieren der besten Ideen. Carlo Rovelli weiß, dass dies leider nicht lange so blieb. Einige Jahrhunderte später sollte das Römische Reich die absolute Macht wieder in die Hände Einzelner legen.

Das Christentum betrachtet Wissen wieder als Domäne des Göttlichen. Carlo Rovelli erklärt: „Die Vereinigung von imperialer und kirchlicher Macht sollte die Theokratie zurückbringen.“ Doch einige Jahrhunderte lang gelang es den Menschen, sich von der Theokratie und der Dominanz religiösen Denkens zu befreien. Zu Lebzeiten von Anaximander war Milet unabhängig, aber Teil eines Zusammenschlusses ionischer Städte. Dieser sogenannte Ionische Bund erlaubte keine Herrschaft einer Stadt über die anderen. Sondern er stellte einen gemeinsamen öffentlichen Raum für die Diskussionen von Ideen und Entscheidungen dar. Quelle: „Die Geburt der Wissenschaft“ von Carlo Rovelli

Von Hans Klumbies