Die Zeit ist ein Pfeil mit unterschiedlichen Enden

Vergangenheit und Zukunft sind verschieden. Ursachen gehen Wirkungen voraus. Carlo Rovelli stellt fest: „Wir können Vergangenes nicht ungeschehen machen, sondern allenfalls Bedauern oder Reue empfinden oder uns an glücklichen Erinnerungen erfreuen.“ Dagegen ist die Zukunft mit Ungewissheit, Wunschdenken oder Besorgnis verbunden. Sie ist offener Raum, vielleicht Schicksal. Ein Mensch kann in sie hineinleben, sie wählen, da sie noch nicht ist. In ihr ist alles möglich. Die Zeit ist keine Achse mit zwei gleichwertigen Richtungen: Sie ist ein Pfeil mit unterschiedlichen Enden. Dies ist an der Zeit wichtig, mehr noch als die Geschwindigkeit, mit der sie vergeht. Dies bildet ihren Kern. Dieses Kribbeln auf der Haut, wenn man sich vor der Zukunft fürchtet oder die Erinnerung einem Rätsel aufgibt. Carlo Rovelli ist seit dem Jahr 2000 Professor für Physik in Marseille.

Wärme fließt vom warmen zum kalten Körper

Hier liegt das Geheimnis der Zeit verborgen: der Sinn dessen, was ein Mensch meint, wenn er an die Zeit denkt. Warum ist die Vergangenheit so ganz anders als die Zukunft? Mit diesen Fragen hat sich die Physik des 19. und des 20. Jahrhunderts herumgeschlagen und ist auf etwas gestoßen, das noch mehr überrascht und befremdet als nur die im Grunde nebensächliche Tatsache, dass die Zeit an unterschiedlichen Orten in verschiedenem Tempo vergeht.

Der Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft – zwischen Ursache und Wirkung, Erinnerung und Hoffnung, Reue und Absicht – kommt in den Grundgesetzen, welche die Mechanismen der Welt beschreiben, überhaupt nicht vor. Der preußische Professor Rudolf Clausius (1822 – 1888) stellt ein Gesetz auf, das berühmt werden wir: „Wärme fließt natürlicherweise vom warmen zum kalten Körper; sie fließt nicht spontan vom kalten zum warmen Körper.

Nur ein Gesetz der Physik unterscheidet zwischen Vergangenheit und Zukunft

Das ist der entscheidende Unterschied zu fallenden Körpern: Ein herabfallender Ball kann seine Bewegung umkehren, zum Beispiel durch den Rückprall. Wärme kann da nicht. Dieses von Rudolf Clausius formulierte Gesetz ist das einzige allgemeine der Physik, das zwischen Vergangenheit und Zukunft unterscheidet. Bei keinem anderen ist dies der Fall: Ob Isaac Newtons Grundgleichungen der Mechanik, Maxwells Gleichungen der Elektrizität und des Magnetismus, Einsteins Relativitätstheorie der Gravitation, Heisenbergs Quantenmechanik, die Elementarteilchen Schrödingers und Diracs oder der Physiker des 20. Jahrhunderts: Keine dieser Gleichungen unterscheidet Vergangenheit von Zukunft.

Wenn die Gleichungen eine Abfolge von Ereignissen zulassen, ist diese auch rückwärts in der Zeit möglich. In den elementaren Gleichungen der Welt taucht der Zeitpfeil nur dann auf, wenn Wärme vorhanden ist. Zwischen Zeit und Wärme besteht also eine tiefgreifende Beziehung: Wann immer ein Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft zutage tritt, dann durch Wärme. An sämtlichen Phänomenen, die sich ins Absurde wandeln, wenn sie rückwärts abgespult werden, ist etwas sich Erwärmendes beteiligt. Quelle: „Die Ordnung der Zeit“ von Carlo Rovelli

Von Hans Klumbies