Auch Carlo Rovelli kennt das einzige Textfragment, das von Anaximander erhalten geblieben ist und von Simplicius zitiert wird: „Woraus aber für das Seiende das Entstehen ist, dahinein erfolgt auch ihr Vergehen gemäß der Notwendigkeit. Denn sie schaffen einander Ausgleich und zahlen Buße für ihre Ungerechtigkeit nach der Ordnung der Zeit.“ Erstens steckt in diesen wenigen Zeilen die Idee, dass die Entwicklung der Welt nicht dem Zufall überlassen ist. Sondern sie ist von der Notwendigkeit bestimmt, also von Gesetzen in irgendeiner Form. Zweitens besagen sie, dass die Art und Weise, wie sich diese Gesetze ausdrücken, „der Ordnung der Zeit“ folgt. Das bedeutet laut Carlo Rovelli, dass es Naturgesetze gibt und diese regeln, wie sich natürliche Abläufe zeitlich entwickeln. Carlo Rovelli ist seit dem Jahr 2000 Professor für Physik in Marseille.
Die Mathematik ist die Sprache der Naturgesetze
Anaximander spezifiziert die Form dieser Gesetze nicht. Es sei denn, durch eine dunkle Anspielung auf das moralische Gesetz, die Gerechtigkeit. Soweit man weiß, hat er keines dieser Gesetze explizit formuliert. Erst in der nächsten Generation soll eine andere bedeutende wissenschaftsgeschichtliche Persönlichkeit die Form dieser Gesetze verstehen. Das heißt die Sprache, in der sie geschrieben sind. Dieser Mann war Pythagoras. Seine für die milesische Schule völlig neue Erkenntnis ist, dass die Sprache, in der die Naturgesetze geschrieben sind, die Mathematik ist.
Damit ergänzt Pythagoras Anaximanders Weltsicht durch ein neues Schlüsselelement und verleiht der Idee von „Gesetzen“, die bei Anaximander noch sehr vage ist, eine präzise Form. Pythagoras wurde 569 v. Chr. in Samos, in der Nähe von Milet, geboren. Also 24 Jahre vor Anaximanders Tod. Pythagoras besuchte im Alter von 18 oder 20 Jahren Milet, um Thales und Anaximander zu treffen. Die große pythagoreische Idee, dass sich die Welt in der Sprache der Mathematik beschreiben lässt, sollte von Platon aufgenommen, erweitert und verbreitet werden.
Die Geometrie ist ein Pfeiler der Wahrheitslehre Platons
Platon machte daraus einen der Pfeiler seiner Wahrheitslehre. Auch für ihn ist die Struktur der Welt in der Sprache der Mathematik geschrieben. Für die Griechen war das so gut wie gleichbedeutend mit Geometrie. Einer umstrittenen Überlieferung zufolge ließ Platon über der Tür seiner Akademie folgenden berühmten Satz einmeißeln: „Es trete niemand hier ein, der nicht der Geometrie kundig ist.“ Auch Platon leistete außerordentlich wichtige Beiträge zur Entwicklung der Naturwissenschaften.
In „Timaeus“ unternimmt Platon einen konkreten Versuch, die Welt geometrisch zu beschreiben. Er interpretiert dabei die Atome von Leukipp und Demokrit wie auch die vier Elemente von Empedokles als einfache geometrische Figuren. Aus wissenschaftlicher Sicht ist das Ergebnis kein Meisterwerk. Doch die Richtung stimmt. Nur mit Hilfe der Mathematik ist es möglich, die Welt effizient zu beschreiben. Der Fehler bei diesem ersten und couragierten Versuch Platons, die Geometrie einzusetzen, um die Welt vollständig und quantitativ zu ordnen, ist, dass er die Zeit nicht einbezieht. Quelle: „Die Geburt der Wissenschaft“ von Carlo Rovelli
Von Hans Klumbies