Carlo Rovelli entwickelt in seinem neuen Buch „Die Geburt der Wissenschaft“ am Anfang eine sorgfältige Biografie des Forschers Anaximander von Milet, der im 6. Jahrhundert v. Chr. lebte und als einer der Väter der Naturwissenschaften gilt. Er war der Erste, der die Bewegung der Gestirne rational studierte und versuchte, sie in einem geometrischen Modell wiederzugeben. Von ihm die Bezeichnung der Welt als Kosmos und ihre Erfassung als ein planvoll geordnetes Ganzes aus und damit die Idee, dass die Welt auch ohne Rückgriff auf Götter verständlich und erklärbar ist – eine Revolution des Denkens. Carlo Rovelli zeichnet in diesem Buch nicht nur sein Leben und Werk nach, sondern verfolgt auch, was im Laufe der Jahrhunderte aus diesem Ansatz wurde – bis hin zum modernen naturwissenschaftlichen Denken. Carlo Rovelli ist seit dem Jahr 2000 Professor für Physik in Marseille.
Nur der Zweifler lernt ständig dazu
Der Autor reflektiert in „Die Geburt der Wissenschaft“ über das Verhältnis des Sichtbaren und Unsichtbaren, die Naturgesetze, Wahrheit und Wirklichkeit – und darüber, was überhaupt Wissenschaft ist, wo ihre Möglichkeiten und Grenzen liegen und was sie für ihn selbst bedeutet. Um die Welt zu verstehen, erklärt er, ist es notwendig zu erkennen, dass das Bild der Wissenschaft von der Welt auch falsch sein kann und einer Korrektur bedarf. Die Naturwissenschaft ist dabei vor allem eine leidenschaftliche Erforschung neuer Möglichkeiten, die Welt zu denken.
Die Naturwissenschaft gewinnt ihre Kraft nicht aus den Sicherheiten, die sie liefert, sondern ganz im Gegenteil aus einem geschärften Bewusstsein für das Ausmaß des Nichtwissens der Menschheit. Carlo Rovelli schreibt: „Es ist dieses Bewusstsein, dass uns ohne Unterlass dazu antreibt, an dem zu zweifeln, was wir zu wissen glauben, und uns daher erlaubt, unablässig zu lernen.“ Ein solches fluides, ständig in Entwicklung begriffenes Denken besitzt eine große Kraft und eine geheimnisvolle Magie. Das Wesen dieses Denkens ist das zweite Thema dieses Buches.
Anaximander war ein Gigant des menschlichen Denkens
Der Aspekt des naturwissenschaftlichen Denkens, den Carlo Rovelli in „Die Geburt der Wissenschaft“ ins Zentrum rücken möchte, ist seine Fähigkeit zur Kritik und zur Rebellion, zum ständigen Neuerfinden der Welt. Wenn Carlo Rovelli über Anaximander spricht, dann heißt das auch, über die Bedeutung der von Albert Einstein in Gang gesetzten wissenschaftlichen Revolution nachzudenken, die das Thema seiner Arbeit als Physiker ist, der sich auf Quantengravitation spezialisiert hat.
Carlo Rovelli stellt das Denken und das Erbe Anaximanders aus der Sicht eines zeitgenössischen Naturwissenschaftlers dar: „Das Bild, das sich abzeichnet, ist das eines Giganten des menschlichen Denkens, dessen Ideen einen bedeutenden historischen Wendepunkt markieren.“ Er war der Mann, der das schuf, was die Griechen „die Erforschung der Natur“ nannten, und der damit das Fundament für die gesamte naturwissenschaftliche Revolution legte, die folgen sollten. Bei ihm werden die Dinge der Welt zum ersten Mal als etwas gesehen, das sich direkt durch logisches Denken verstehen lässt.
Die Geburt der Wissenschaft
Anaximander und sein Erbe
Carlo Rovelli
Verlag: Rowohlt
Gebundene Ausgabe: 229 Seiten, Auflage: 2019
ISBN: 978-3-498-05398-7, 22,00 Euro
Von Hans Klumbies