Thales gilt als einer der „Sieben Weisen“ der griechischen Antike. Die Sieben Weisen sind mehr oder minder historische Figuren. Die Griechen verehren sie als Gründerväter ihres Denkens und ihrer Institutionen. Ebenfalls zu den Sieben Weisen gehörte Solon, ein Zeitgenosse von Thales und Anaximander, Autor der ersten demokratischen Verfassung von Athen. Carlo Rovelli ergänzt: „Anaximander war circa zehn Jahre jünger als Thales. Wir wissen nicht welches Verhältnis sie zueinander hatten.“ Im 6. griechischen Jahrhundert ist es zum ersten Mal in der Geschichte so weit, dass die Fähigkeit zum Lesen und zum Schreiben nicht länger auf einen begrenzten Kreis professioneller Schreiber beschränkt blieb. Ein Großteil der allgemeinen Bevölkerung und praktisch die gesamte Oberschicht konnte nun lesen und schreiben. Carlo Rovelli ist seit dem Jahr 2000 Professor für Physik an der Universität Marseille.
Anaximanders Theorien bauen auf Thales auf
Jeder Grundschüler weiß, dass es nicht einfach ist, Lesen und Schreiben zu lernen. In den ersten Jahrhunderten nach Einführung eines phonetischen Alphabets, muss es noch viel schwieriger gewesen sein. Denn das Schreiben war damals noch viel weniger verbreitet als heute. Daher erscheint Carlo Rovelli die Annahme vernünftig, dass die jungen Griechen auf die eine oder andere Weise von erfahrenen Älteren im Lesen und Schreiben unterrichtet wurden.
Wahrscheinlich gab es in den großen griechischen Städten des 6. Jahrhunderts Lehrer, Tutoren oder Schulen. Die Kombination von Unterricht und intellektuellem Forschen könnte es durchaus schon damals gegeben haben. Wie dem auch sei, es ist klar, dass Anaximanders große theoretische Spekulationen auf den Überlegungen des Thales aufbauen. Sie drehen sich nicht nur um die gleichen Fragen, wie die Suche nach dem Urstoff aller Dinge oder nach der Form des Kosmos.
Die antike Welt ist voller Denker und ihrer Schüler
Das Erbe des Thales zeigt sich bei Anaximander auch in zahlreichen Details. So bleibt Anaximanders Erde eine Scheibe, auch wenn sie im Raum schwebt, genau wie die Erdscheibe von Thales, die allerdings auf dem Wasser schwimmt. Die intellektuelle Verbindung zwischen den beiden ist sehr eng. Das Denken des Zweiten erwuchs aus den Überlegungen des Ersten und speiste sich aus ihnen. Thales ist Anaximanders Lehrer – im übertragenen und wahrscheinlich auch im konkreten Sinne.
Die antike Welt ist voller Denker und Lehrer und ihrer Schüler. Als Beispiele nennt Carlo Rovelli Konfuzius und Mencius, Moses und Joshua, Jesus Christus und Paulus von Tarsos. Die Beziehung zwischen Thales und Anaximander ist jedoch völlig anders als die Beziehung dieser „Meisterschüler“ zu ihrem Meister. Was dem Umgang mit dem Erbe seines Lehrers Thales anging, wählte Anaximander einen völlig neuen Weg. Er arbeitete sich intensiv in die Problematik des Thales, seine Denkweise und seine intellektuellen Leistung ein. Aber gleichzeitig stellte er die Behauptungen seines Lehrers ganz direkt in Frage. Quelle: „Die Geburt der Wissenschaft“ von Carlo Rovelli
Von Hans Klumbies