Michael J. Sandel blickt zurück: „Der Zerfall von Gemeinschaft und die Bedrohung der Selbstverwaltung um die Jahrhundertwende in den USA brachten im Großen und Ganzen zwei Reaktionen von Reformen der Progressiven Bewegung hervor – die eine prozedural, die andere formativ.“ Mit der ersten versuchte man, den Staat weniger von der Tugend in der Bevölkerung abhängig zu machen – dazu verlagerte man Entscheidungen zu qualifizierten Managern, Verwaltern und Fachleuten. Städtische Reformer bemühten sich darum, die Korruption urbaner Parteichefs zu umgehen – dazu etablierten sie Stadtverwaltungen mit überparteilichen Bevollmächtigten und Schuldirektoren. Bildungsreformer bemühten sich, Schulen aus der Politik herauszunehmen – dazu verlagerten sie Autorität von ortsansässigen Bürgern auf fachkundige Verwalter. Michael J. Sandel ist ein politischer Philosoph. Er studierte in Oxford und lehrt seit 1980 in Harvard. Er zählt zu den weltweit populärsten Moralphilosophen.
Die Progressiven orientierten sich in der Regel an den Sozialwissenschaften
Um die widerstreitenden Forderungen des modernen Soziallebens aufeinander abzustimmen und auszurichten, orientierten sich die Progressiven in der Regel an den Sozialwissenschaften und an bürokratischen Verfahren. Michael J. Sandel ergänzt: „Wissenschaftler und Fachleute würden, wie sie hofften, ein neutrales Gremium bilden, vor dem Menschen mit unterschiedlichen Einstellungen ihre Konflikte vortragen könnten, und an dessen Entscheidungen sie sich bereitwillig halten würden.“
Mit wissenschaftlicher Methodik gewappnete Fachleute würden es so ermöglichen, die Konflikte und Unklarheiten abzustellen, die stets das Kennzeichen des Politikbereichs gewesen sind. Michael J. Sandel erläutert: „Mit ihren Versuchen, Regierungshandeln von der Politik abzulösen und konkurrierende Interessen durch neutrale, bürokratische Verfahren zu regeln, wiesen die progressiven Reformer auf die Version des Liberalismus, welche die prozedurale Republik bestimmen sollte.“ Doch obwohl sie sich darum bemühten, die Abhängigkeit des Staates von der Tugendhaftigkeit der Bevölkerung zu verringern, hielten die Progressiven am formativen Ehrgeiz der republikanischen Tradition fest.
Der Charakter der Bürger sollte verbessert werden
Sie suchten nach neuen Möglichkeiten, den moralischen und zivilgesellschaftlichen Charakter der Bürger zu verbessern. Besonders traf das auf ihre verschiedenen Projekte für städtische Reform zu. Michael J. Sandel stellt fest: „Der Kampf gegen städtische Gaunereien und kommunale Korruption wurde nicht nur im Namen ehrlichen, effizienten Regierens geführt, sondern auch, um das moralische Niveau der Stadt zu heben und neuen Einwanderern ein gutes Beispiel zu geben.“
Die Bewegung für die Reform des Mietskasernenwesens zielte nicht nur darauf ab, den Armen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und ihr physisches Leid zu lindern, sondern auch darauf, den moralischen und zivilgesellschaftlichen Charakter der Slumbewohner zu heben. „Die physischen Bedingungen, unter denen diese Menschen leben, mindern deren Kraft, dem Bösen zu widerstehen“, konstatierte eine Studie. Kurzlebiger äußerten sich die Bildungsambitionen der Progressiven in historischen Festzügen. Dieses Spektakel der Zivilgesellschaft nutzte Drama, Musik und Tanz, um Bürgern die Geschichte ihrer Städte vorzuführen. Quelle: „Das Unbehagen in der Demokratie“ von Michael J. Sandel
Von Hans Klumbies