Ungleichheit mag unbeliebt sein, doch konnte dies offensichtlich nicht verhindern, dass die Einkommen und Vermögen in der gesamten industrialisierten Welt immer weiter auseinanderklaffen. Ben Ansell stellt fest: „Wir leben in einem Zeitalter eines offensichtlichen Ungleichheitsparadoxon: Die globale Ungleichheit ist zurückgegangen, da Milliarden Menschen in China und Indien aus der Armut befreit wurden; in den wohlhabenden Ländern wächst die Ungleichheit seit den 1980er- Jahren dramatisch.“ Die Schließung von Fabriken und stagnierende Löhne in den reichen Ländern führten zu Reaktionen sowohl gegen wohlhabende urbane Regionen als auch gegen den Handel mit ärmeren Ländern. Die politischen Auswirkungen dieser Abwehrreaktion waren gravierend und stellten die bisherige Rechs-links-Politik in Amerika und in Europa auf den Kopf. Ben Ansell ist Professor für Politikwissenschaften am Nuffield College der Universität Oxford.
Niemand ist vor Schicksalsschlägen gefeit
Populisten, die „Globalisten“ anprangerten, gewannen eine Wahl nach der andern. Gleichheit, beziehungsweise ihr Fehlen, war wieder in den Mittelpunkt der Politik gerückt. Niemand ist vor Schicksalsschlägen gefeit. Ein Mensch kann sterbenskrank werden oder von einem Bus überfahren werden. Ben Ansell ergänzt: „Unser Berufsleben ist ebenfalls nur selten ein geradliniger Aufstieg von A – Hungerlohn – nach B – Reichtum. Manchmal haben wir Pech. Wir hoffen, dass uns andere, die gerade gute Zeiten erleben, helfen können, wenn wir am Boden liegen, so wie wir es auch umgekehrt tun würden.“
Das ist Solidarität: Unterstützung für die Mitbürger, die eine schwere Zeit durchmachen. Häufig wird darum gestritten, wer Solidarität zeigen sollte und in welchem Ausmaß. Ben Ansell erklärt: „Doch egal, ob sie vom Staat oder von der Kirche ausgeht, ob sie im eigenen Land oder bei den Ärmsten der Welt beginnt, Solidarität war immer schon ein weitverbreiteter menschlicher Impuls.“ In den wohlhabenden Demokratien sind die populärsten politischen Maßnahmen solidarische.
Der Staat soll für die Gesundheitsversorgung zuständig sein
Zugleich handelt es sich dabei um die stark aufgeladenen Themen und heißen Eisen, mit denen man leicht politischen Selbstmord begeht, wenn man sie unvorsichtigerweise aufgreift. Ben Ansell nennt Beispiele: „Die Sozialversicherung in den Vereinigten Staaten etwa oder der Nationale Gesundheitsdienst, der in Großbritannien eine vermeintlich heilige Kuh ist.“ In den reichen Ländern glauben 95 Prozent der Menschen, dass der Staat für die Gesundheitsversorgung zuständig sein soll.
Sogar in den USA, wo die Rolle der Behörden in der Gesundheitsversorgung, vorsichtig formuliert, lückenhaft ist, wünschen sich 85 Prozent, dass der Staat hier Verantwortung übernimmt. Ben Ansell fügt hinzu: „Und manchmal erfahren wir globale Solidarität direkter, als wir uns hätten vorstellen können. Lange wurde weltweite Gesundheitsversorgung als eher abseitiges Thema empfunden.“ Etwas, was die Menschen „da draußen“ betraf – die Zielgruppen für Entwicklungshilfe und internationale Hilfsorganisationen, aber nichts, was bei uns wirklich existenzielle Sorgen verursacht hätte. Quelle: „Warum Politik so oft versagt“ von Ben Ansell
Von Hans Klumbies