Wer in der Überzeugung handelt, seine Wünsche der Welt aufzwingen zu können, irrt sich gewaltig: er unterschätzt den Widerstand der Wirklichkeit und vergisst, dass er sich im Hinblick auf die eigenen Wünsche irren kann. Charles Pépin rät: „Gehen wir hinaus. Handeln wir in der Welt. Nicht in der verrückten Hoffnung, unseren Willen der Wirklichkeit zu oktroyieren, sondern um auszuprobieren. Ich gehe los – und sehe.“ Dabei entdeckt man, was möglich ist; man wird sich darüber im Klaren, was man wirklich wünscht. „Liebe ohne Zufall!“ versprach vor ein paar Jahren ein Werbeslogan der Singlebörse Meetic. Ein erstaunliches Programm – und allemal trügerisch. Um der Liebe zu begegnen, sollten wir besser mit dem Zufall rechnen, mit ihm spielen, ihn herausfordern, ihn zum Verbündeten machen, statt zu versuchen, ihn abzuwenden. Charles Pépin ist Schriftsteller und unterrichtet Philosophie. Seine Bücher wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.
Verliebtsein hat immer etwas Überraschendes
Alle großen Liebesgeschichten, die uns die Literatur erzählt, zeigen auf, was unsere Erfahrung bestätigt: Einen Menschen zu begegnen, sich zu verlieben, hat etwas Überraschendes. Charles Pépin weiß: „Den Zufall durch eine Logik der Vorhersage, der methodischen Kriteriensuche ausschalten zu wollen, stellt ganz gewiss nicht den besten Weg hin zur Begegnung dar.“ Statt ihn auszuschalten, sollte man den Zufall umarmen und mit ihm spielen.
Die schlauen Algorithmen der Dating-Apps kann man durchkreuzen, wenn die persönlichen Kriterien vage und allgemein bleiben, wenn man seine Tür nicht verschließt. Charles Pépin fügt hinzu: „Dann kann sich der Zufall in den Freiräumen entfalten, die die programmierten Voraussagen nicht erfassen. Unser Flanieren auf den Apps bekommt eine andere Dimension. Offen und neugierig entdecken wir alle möglichen Profile.“ In diesem kontinuierlichen und quasi endlosen Defilee von Personen kommt man auf den Geschmack, dass mal dies, mal das die Aufmerksamkeit auf sich zieht.
Jeder sollte eine gewisse Achtsamkeit für den Anderen mitbringen
Charles Pépin nennt Beispiele: „Ein Blick, ein Lächeln, eine originelle Frisur, ein bestimmter Bildausschnitt, eine Inszenierung, die eine kreative Persönlichkeit verrät, ein ungewöhnlicher Style – ebenso viele Einzelheiten, die uns auffallen, ergreifen, ob wir die Person nun „liken“ oder nicht, und die uns vorbereiten auf eine gewisse Achtsamkeit für den Anderen, auf einen aufmerksameren und offeneren Blick für Details, die den Reiz ausmachen.“ Eigentlich könnten diese Apps ein gutes Übungsfeld sein, um sich für den Anderen zu öffnen und sich vom Zufall leiten und überraschen zu lassen.
So genutzte Apps wecken die Lust zum Flanieren und Schauen, daran, auf die Leute zu achten, deren Weg man kreuzt, ebenso auf die kleinen Dinge, die einem etwas über sie verraten oder die man reizend findet und einem ein Lächeln entlockt. Charles Pépin ergänzt: „Und wer weiß, wenn wir unseren Blick sich auf die anderen lenken lassen, kreuzen wir vielleicht am Ende doch noch jemanden und es geschieht etwas – oder auch nicht. Aber allein das kann schon den Tag verschönern und uns in gute Laune versetzen.“ Quelle: „Kleine Philosophie der Begegnung“ von Charles Pépin
Von Hans Klumbies