Ludwig Marcuse schreibt: „Die Angst vor dem Wechsel, im Leben des Einzelnen und der Gesellschaft, trieb die Philosophen zur Erfindung des Ewigen.“ Pyrrhon von Ellis lebte etwas 300 vor Christus und war der legendäre Begründer der Skepsis. Axel Braig hat begonnen, seiner Umwelt mitzuteilen, dass er auf die Vorstellung der einen großen Wahrheit verzichten möchte. Erfahrungen und Wahrnehmungen des Lebens haben sich zu einem für neue Erfahrungen offenen, aber ansonsten durchaus stabilen Netz von Überzeugungen zusammengefügt. Axel Braig erklärt: „Dieses Netz bildet eine meist brauchbare Grundlage für viele Entscheidungen. Diese treffe ich täglich und meistens ganz ohne nachzudenken. So komme ich auch ohne die gefühlte Sicherheit einer angeblich absoluten Wahrheit durchs Leben.“ Axel Braig wandte sich nach Jahren als Orchestermusiker und Allgemeinarzt erst spät noch einem Philosophiestudium zu.
Wertungen sind in aller Regel subjektiv
In den allermeisten Situationen lässt sich durchaus ein Konsens zwischen seiner und den Wahrnehmungen anderer herstellen. Trotzdem legt der Verzicht auf die Panoramaperspektive oder auf dogmatische Grundüberzeugungen wichtige Konsequenzen bei sozialen Auseinandersetzungen nahe. Denn immer, wenn es in einer Situation keinen Konsens gibt, kann sich kein Beteiligter, auf eine einzige Wahrheit berufen. Obwohl er sich dieser womöglich schon nahe glaubt.
Vielmehr müssen sich die streitenden Parteien über die verschiedenen Ansichten auf gleicher Ebene auseinandersetzen. Beim Geschmack von Austern kann man sich zwar meist darauf verständigen, dass Geschmäcker eben verschieden und Wertungen in aller Regel subjektiv sind. Axel Braig weiß: „Schwieriger wird es jedoch, wenn verschiedene handfeste Interessen in Konflikten aufeinanderprallen.“ Der Paartherapeut Jürg Willi berichtet, dass er immer wieder davon beeindruckt sei, was sich streitende Paare gegenseitig vorwerfen, jeweils von beiden Seiten plausibel und zutreffend erscheine.
Verschiedene Meinungen können anregend sein
In einem solchen Fall stellen sich derart verschiedene Wahrnehmungen diamental gegenüber. Dann besteht aber meist keine Möglichkeit mehr, den Konflikt durch die Verständigung auf eine Wahrheit zu lösen. Nicht nur bei Paarkonflikten bleibt daher oft nur der Lösungsweg, dies zur Kenntnis zu nehmen. Man muss dies respektieren und dann nach einer Lösung suchen. Diese muss darauf verzichtet, die Wahrheitsfrage in den Vordergrund zu stellen. In diesem Zusammenhang erscheint auch der Satz des auf Kleinasien stammenden Stoikers Epiktet interessant.
Epiktet schreibt: „Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern ihre Meinungen und Urteile über die Dinge.“ Epiktets Satz mag daran erinnern, dass Menschen bei ihren Beschreibungen den womöglich als objektiv wahr angesehenen Tatsachen Entscheidendes hinzufügen. Damit sprechen sie gleichzeitig über individuelle Bedürfnisse, Wünsche und Hoffnungen. Verschiedene Betrachtungsweisen können durchaus auch als anregend empfunden werden. Das lässt sich regelmäßig auf Reisen mit anderen Menschen erleben. Quelle: „Über die Sinne des Lebens und ob es sie gibt“ von Axel Braig
Von Hans Klumbies