Autorität funktioniert über eine freiwillige Unterwerfung, einen inneren Zwang. Beides kommt aber erst, wenn die Umgebung dem Nachwuchs lange genug ihre Erwartungen vorhält. Die Voraussetzung dafür liegt auf der Hand. Paul Verhaeghe erklärt: „Die beteiligten Personen müssen Tatkraft und Präsenz an den Tag legen. Nach einiger Zeit übernehmen die Kinder diese Erwartungen, und die konkrete Anwesenheit muss nicht mehr so konkret sein.“ Heute ist dieser Prozess aus zwei Gründen problematisch. Zum einen können Eltern immer weniger Zeit mit ihren Kindern verbringen. Zudem schrecken viele davor zurück, eine Autoritätsposition einzunehmen und ein deutliches „Nein“ verlauten zu lassen. Einerseits meinen sei, das sei nicht angemessen, andererseits fürchten sie – oft zu Recht – eine brutale Reaktion. Paul Verhaeghe lehrt als klinischer Psychologe und Psychoanalytiker an der Universität Gent.
Pubertierende streben nach Dominanz über die Eltern
Aus Zeitmangel und weil sie sich schwertun, eine klare Autoritätsposition einzunehmen, entscheiden sich manche Autoritätspersonen für eine „sanfte“ Methode: Sie geben sich als Freude und Kumpel und nicht als Autoritätspersonen. Paul Verhaeghe stellt fest: „Damit begehen sie einen grundlegenden Fehler: Autorität beruht auf Unterschied und Abstand.“ Wenn Mama ihre vierzehnjährige Tochter als beste Freundin und Papa seinen zwölfjährigen Sohn mit „wir Männer“ anspricht, schaffen sie eine Illusion der Gleichheit.
Pubertierende wollen in einer solchen Situation schnell die Dominanz, was ständige Konflikte zur Folge hat. Letzteres ist genau das, was Eltern eigentlich vermeiden wollen, und die einfachste Methode, um Streit zu vermeiden, ist dann, dass sie ihre ohnehin schon begrenzte Anwesenheit noch weiter einschränken. So entsteht ein Teufelskreis, der im Extremfall dazu führt, dass Eltern Angst vor ihren Kindern haben – und dann sind alle Dämme gebrochen. Elternmisshandlung beschränkt sich längst nicht mehr auf die Misshandlung von Senioren, und auch Lehrer fürchten psychische und sogar physische Gewalt einiger Schüler.
Eltern dürfen Probleme mit ihren Kindern nicht verschweigen
Für Erziehung und Unterricht ist ausreichend Abstand nötig, doch das darf nicht zu Abwesenheit führen. Präsenz ist sogar sehr wichtig, mit dem aufgrund des Unterschiedes gebotenen Abstands. Eltern und Lehrer müssen wieder mehr Präsenz zeigen, vor allem dürfen sie nicht alleine dastehen. Sie sind als Mitglied eines Kollektivs anwesend. Autorität geht einher mit Zeit und Nachhaltigkeit, und erfordert nur selten eine unmittelbare Reaktion, eher das Gegenteil. Autorität erfordert eine Präsenz, die über Kontrolle hinausreicht; sie bedarf kontinuierlicher Aufmerksamkeit.
Wenn Eltern Probleme mit ihren Kindern haben, neigen sie häufig dazu, alles im stillen Kämmerlein zu lassen. Doch sobald man etwas verschweigt, kommt ein Rattenschwanz anderer Probleme hinzu. Paul Verhaeghe erläutert: „Immer größer wird das Unaussprechbare und zugleich auch die soziale Isolation. Die Eltern befinden sich dabei in der schwächsten Position, der Jugendliche gerät in die Machtposition.“ In extremen Fällen kommt es sogar zur Erpressung. Eltern – und vor allem alleinerziehende Mütter – sehen sich schnell auf der Anklagebank und verschlimmern so die eigene Isolation nur noch. Quelle: „Autorität und Verantwortung“ von Paul Verhaeghe
Von Hans Klumbies