Zwei Lager stehen sich bei der Debatte über die Zukunft der Arbeit gegenüber, deren Prognosen gegensätzlicher nicht sein könnten. Richard David Precht erläutert: „Die einen sehen Zeiten der Vollbeschäftigung voraus. Hat nicht der technische Fortschritt immer die Produktivität erhöht und die Anzahl der Arbeitenden?“ Sie können dabei auf den amerikanischen Nobelpreisträger Robert Solow verweisen. Seiner Meinung nach hat der technische Fortschritt stets eine gewaltige Steigerung der Produktivität ermöglicht. Nicht Arbeit und Kapital, sondern vielmehr die Technik sei der entscheidende Wachstumsfaktor. Auf der anderen Seite sagte der britische Ökonom John Maynard Keynes im Jahr 1933 voraus, der Fortschritt in den Industrieländern würde zu einer Massenarbeitslosigkeit führen. Der Philosoph, Publizist und Bestsellerautor Richard David Precht zählt zu den profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.
Hans Klumbies
Es gibt zwei Phänomene der Identität
Die Französische Revolution hatte weltweit immense Auswirkungen auf das Verständnis von Identität. Obwohl der Begriff damals noch nicht Verwendung fand, lassen sich doch fortan deutlich zwei Phänomene der Identität unterscheiden. Diese gehen von unterschiedlichen Prämissen aus. Francis Fukuyama erklärt: „Eine Gruppierung verlangte die Anerkennung der Würde von Individuen, während die andere die Anerkennung der Würde von Kollektiven in den Vordergrund rückte.“ Die erste, individualistische Fraktion ging von der Voraussetzung aus, dass alle Menschen frei geboren und in ihrem Streben nach Freiheit gleichwertig sind. Die Schaffung politischer Institutionen sollte allein dem Ziel dienen, so viel wie möglich jener natürlichen Freiheit zu erhalten, soweit sie im Einklang mit der Notwendigkeit eines gemeinsamen Gesellschaftslebens stand. Francis Fukuyama ist einer der bedeutendsten politischen Theoretiker der Gegenwart. Sein Bestseller „Das Ende der Geschichte“ machte ihn international bekannt.
Frédéric Lenoir kennt den Weg zur Weisheit
Wie Sokrates bemerkt, beginnt der Weg zur Weisheit mit der Selbsterkenntnis. Er fordert: „Stell Dir die Frage: Wer bin ich?“ Damit ist nicht nur die biologische Art und Familienangehörigkeit gemeint. Gemeint sind auch nicht nur die kulturelle Zugehörigkeit und auch nicht die soziale. Nein, jeder soll sich nach seiner tiefen inneren Identität fragen. Nur dann wird man laut Frédéric Lenoir herausfinden, dass das Bild, das andere von einem haben und das man anderen vermitteln möchte, seinem echten Wesen vielleicht nicht entspricht. Dass man nicht voll und ganz dem eigenen Selbst entspricht. Diese Selbstbefragung ist sehr wichtig, denn keine Suche nach der Weisheit kann auf der Grundlage eines „falschen Selbst“ gelingen. Die Unkenntnis seiner selbst, seiner inneren Natur sowie seiner wahren Sehnsüchte verhindert den Weg zur Weisheit. Frédéric Lenoir ist Philosoph, Religionswissenschaftler, Soziologe und Schriftsteller.
Barbara Schmitz erforscht das lebenswerte Leben
In ihrem Essay „Was ist ein lebenswertes Leben?“ stellt Barbara Schmitz fest, dass die Frage sich nicht systematisch und linear behandeln lässt. Denn es gibt darauf keine eindeutige Antwort. Es handelt sich hier vielmehr um eine Frage, die eine subjektive Antwort eines Individuums verlangt: „Eine Antwort, die immer auch die Erfahrungen des jeweiligen Menschen spiegelt.“ Deshalb nimmt Barbara Schmitz in ihrem Essay immer wieder Bezug auf biographische Erfahrungen. Die mündlichen und biographischen Berichte bilden die Anstöße zur philosophischen Reflexion, die das Anliegen dieses Essays ist. Individuelle Erfahrungen sind ihr Ausgangspunkt, die mit philosophischen Begriffen, Theorien, Positionen und Debatten verbunden werden. Barbara Schmitz ist habilitierte Philosophin. Sie lehrte und forschte an den Universitäten in Basel, Oxford, Freiburg i. Br., Tromsø und Princeton. Sie lebt als Privatdozentin, Lehrbeauftragte und Gymnasiallehrerin in Basel.
Ohne Wahrheit gibt es keine Gerechtigkeit
Ohne die Erforschung der materiellen Wahrheit, so sagt das Bundesverfassungsgericht, „kann Gerechtigkeit nicht verwirklicht werden“. Das ist für Thomas Fischer eine Aussage, die starke und dezidierte Programmsätze enthält. Es gibt materielle, also „wirkliche“ Wahrheit und Unwahrheit. Es existiert ein normatives und empirisches Konzept, auf dessen Grundlage man zwischen beiden unterscheiden kann. Und es gibt eine Ansicht von Gerechtigkeit, die mit der Wahrheit oder der Verpflichtung zu deren Vorstellung nicht substanziell und zwingend verbunden ist: „Ohne Wahrheit keine Gerechtigkeit“, könnte man daraus schließen, würde damit aber überinterpretieren. Thomas Fischer stellt fest: „Denn was Wahrheit wirklich ist, und ob man sie im Einzelfall zutreffend und ausreichend erforscht hat, weiß das Verfassungsgericht auch nicht.“ Thomas Fischer war bis 2017 Vorsitzender des Zweiten Senats des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe.
Die Stille ist schöpferisch
Der chinesische Philosoph Liezi sagt: „Der Sinn des auf sich selbst Beruhenden ist Stille: So entstehen Himmel, Erde und die ganze Natur.“ Albert Kitzler interpretiert den Satz so, dass Stille entsteht, wenn der Mensch völlig in sich selbst ruht. Diese Stille ist schöpferisch. Die Stille, die hier gemeint ist, bedeutet: alles Unwesentliche abstreifen, sich leeren von allem Äußeren, in seine Mitte kommen. Sie bezieht sich sowohl auf die äußere Natur wie auf die Natur des einzelnen Menschen. Aus ihr entsteht alles. In diese Ruhe und Leere hinein kann der „Anruf des Seins“ erfolgen und vernommen werden. Er fordert den Menschen auf, sein Eigenstes zu ergreifen und zu gestalten. Der Philosoph und Jurist Dr. Albert Kitzler ist Gründer und Leiter von „MASS UND MITTE“ – Schule für antike Lebensweisheit.
Die Dialektik lebe hoch
Patrick Eiden-Offe fordert: „Die Dialektik, sie lebe hoch – auch und gerade in finsteren Zeiten. Sie lebe hoch, nicht als ein Ordnungswissen. Sondern als eine Sichtweise, die jene Unordnung sichtbar macht, auf der sich jede Ordnung erhebt.“ Die Dialektik lebe hoch als Einübung in einen Blick, der selbst noch in den finstersten Machenschaften der Gegenwart die Komödie zu erblicken vermag. Und in der Komödie die nicht zu unterdrückende Tendenz jeder Ordnung zu erkennen, sich selbst zu entlarven. Wenn die Dialektik ein Weltprinzip ist, wie es die Hegelianer aller Zeiten immer wieder behauptet haben, dann muss sie nach Bertolt Brecht als „humoristisches Weltprinzip“ gelten. Nämlich als ein Weltprinzip davon, dass es kein Weltprinzip geben kann. Ja, es ist eine Komödie, auch und gerade, wenn es nichts zu lachen gibt. Patrick Eiden-Offe ist Literatur- und Kulturwissenschaftler.
Albert Camus sucht Sinn in einer absurden Welt
Die 21. Sonderausgabe des Philosophie Magazins ist Albert Camus gewidmet. Der Schriftsteller und Philosoph wurde 1957 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Jana Glaese, Chefredakteurin des Sonderhefts, schreibt im Editorial: „Camus zeigt sich als der Denker dieser Zeit. Die Coronapandemie ließ uns seinen Roman „Die Pest“ wiederentdecken. Die Klimaproteste verleihen seinem Konzept der Revolte neue Aktualität. Und der Ukrainekrieg ruft Camus als Widerstands- und Freiheitsenker ins Gedächtnis.“ Gleichzeitig zielt sein Denken auf weit mehr. Albert Camus ging es um die Existenz als solche. Die Überzeugung, dass man der Welt entgegentreten muss, ist in seiner Philosophie des Absurden angelegt. „Das Absurde“, heißt es im „Der Mythos des Sisyphos“, ist „der Zusammenprall des menschlichen Rufes mit dem unbegreiflichen Schweigen der Welt.“ Doch für Albert Camus gilt es, trotz aller Stille, weiter zu rufen und sich der Sinnlosigkeit zu verweigern. Wenn es ein Glück gibt, dann liegt es eben in dieser Revolte.
Alle Menschen können nicht vegan leben
Veganer meinen, der komplette Verzicht auf tierische Lebensmittel wäre heute schon das probateste Mittel, um dem Klimawandel entgegenzuwirken. Die Vertreter der Fleisch-, Milch- und Geflügelwirtschaft sehen das natürlicherweise etwas anders. Malte Rubach stellt fest: „Zwischen diesen Standpunkten tut sich allem Anschein nach das weite Tal der Ahnungslosen auf.“ Das Thünen-Institut ist eine Einrichtung im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. Es hat 2019 ermittelt, dass der Anteil der Ernährung in Deutschland vom Acker bis zum Teller etwa 19 Prozent aller Treibhausgase in Deutschland ausmacht. Laut Thünen-Institut sind dabei tierische Lebensmittel für 54 Prozent der Treibhausgase der Ernährung in Deutschland verantwortlich. Oder anders gesagt, für zehn Prozent aller Treibhausgase in Deutschland. Der Referent und Buchautor Dr. Malte Rubach hat Ernährungswissenschaften in Deutschland, der Türkei und den USA studiert.
Homer umgab eine Aura von Göttlichkeit
Das Schicksal Trojas hörte nie auf, die Griechen zu beschäftigen. Sogar Xerxes hatte bei seiner Ankunft am Hellespont verlangt, dass man ihm den Ort zeige. In der „Ilias“ war die Erinnerung an jene aufgehoben war, die im Staub der Ebene vor Troja gekämpft hatten. Zudem gab sie den Griechen auch ihr wichtiges Fenster auf das Wirken der Götter und ihr Verhältnis zu den Sterblichen. Tom Holland fügt hinzu: „Der Verfasser der „Ilias“, ein Mann, dessen Geburtsort und dessen Lebensdaten Gegenstand endloser Diskussionen waren, was selbst eine Gestalt mit einer gewissen Aura von Göttlichkeit.“ Einige gingen so weit zu sagen, Homers Vater sei ein Fluss und seine Mutter eine Meeresnymphe gewesen. Der Autor und Journalist Tom Holland studierte in Cambridge und Oxford Geschichte und Literaturwissenschaft.
Die Folgekosten des „Aufbau Ost“ wurden unterschätzt
Die Neubildung der deutschen Nation – und darum ging es ja bei und nach der Wiedervereinigung von 1990 – schien gelungen. Deutschland war ein postklassischer Nationalstaat, als Großmacht gezähmt, da in vielfältige supranationale Strukturen und Gebilde eingebunden. Die Deutschen hatten aus ihrer Geschichte gelernt und begriffen, dass sie nach zwei Weltkriegen und ungeheuerlichen Verbrechen eine unverhoffte zweite Chance erhielten, wie sie im Leben nur selten vorkommt. Edgar Wolfrum erinnert sich: „Der äußeren Einheit würde rasch die innere Einheit folgen. „Blühende Landschaften“ wurde versprochen. Das war die erste Täuschung.“ Die Transformation von einer sozialistischen Planwirtschaft in eine soziale Marktwirtschaft verlief nicht reibungslos. Zwischen West und Ost tat sich ein großer Graben auf, die Folgekosten des „Aufbau Ost“ wurden massiv unterschätzt. Edgar Wolfrum ist Inhaber des Lehrstuhls für Zeitgeschichte an der Universität Heidelberg.
Die Kultur des Erinnerns bestimmt die Gegenwart
Der Mensch, der nicht vergessen, der Unglück, Enttäuschung, Bitterkeit, Hass nicht hinter ich lassen kann, findet keinen Zugang zur Zukunft. Ihm bleiben der Aufbruch, die Erneuerung, das Fortschreiten verschlossen. Paul Kirchhof weiß: „Die Kultur des Vergessens war jahrhundertelang die Bedingung von Friedenschlüssen.“ Nach Ende des 1. Weltkriegs vereinbarte man im Versailler Vertrag jedoch ein Erinnern. Diese Kultur des Erinnerns, der nachhaltigen Zuweisung von Verantwortung, bestimmt das Denken der Gegenwart. Wer die Vernichtungskraft moderner Waffen und Kriege vor Augen hat, wird erkennen, dass ein Krieg zur Selbstzerstörung führt, deshalb zu verhindern ist. Allerdings darf man das Erinnern der Kriegsfolgen, insbesondere die Ausgleichspflichten, nicht über Generationen hinweg verlängern. Dr. jur. Paul Kirchhof ist Seniorprofessor distinctus für Staats- und Steuerrecht an der Universität Heidelberg.
In der Differenz verbirgt sich Schönheit
Hadija Haruna-Oelker erzählt in ihrem Buch „Die Schönheit der Differenz“ ihre persönliche Geschichte. Diese verbindet sie mit hochaktuellen gesellschaftspolitischen Fragen. Sie entwickelt dabei eine Vision davon, wie man ein gelungenes Miteinander in einer Gesellschaft denken kann. Hadija Haruna-Oelker schlägt vor: „Indem wir einander Räume schaffen, Sprache finden, uns mit Offenheit und Neugier begegnen.“ Sie erzählt auch von der Wahrnehmung von Differenzen, von Verbündetsein, Perspektivwechseln und von der Schönheit, die sich aus den Unterschieden der Menschen ergibt. Im Endeffekt ist das Buch eine Einladung an Alle, die über die Zustände in der deutschen Gesellschaft nachdenken möchten. Hadija Haruna-Oelker schreibt für eine diverse Gesellschaft und ihre Schönheit und für alle, die einen Weg dorthin suchen. Hadija Haruna-Oelker lebt als Autorin, Redakteurin und Moderatorin in Frankfurt am Main. Hauptsächlich arbeitet sie für den Hessischen Rundfunk.
Arbeitnehmer brauchen ein einzigartiges Profil
Im System des singularisierten Arbeitens kann man einen Verlust der Bedeutung formaler Qualifikationen zugunsten dessen beobachten, was im spätmodernen Arbeitsdiskurs häufig als „Kompetenzen“ umschrieben wird. Andreas Reckwitz schränkt ein: „Sicherlich spielen formale Qualifikationen nach wie vor eine Rolle. Und bestimmte von ihnen – Hochschulreife, Studienabschluss – werden für viele Tätigkeiten in der Wissens- und Kulturökonomie erwartet.“ Jedoch sind sie zu einer lediglich notwendigen Bedingung mutiert, auf deren Grundlage eine erste Selektion stattfindet. Eine hinreichende Bedingung sind sie nicht. Denn den eigentlichen Unterschied für die Anstellung, den Status und den Erfolg macht die Besonderheit der informellen Kompetenzen des Einzelnen aus. Grundlegend ist die Annahme, dass die für die Projektarbeit eigentlich bedeutsamen Fähigkeiten über die formal attestierbaren Eigenschafen hinausgehen. Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt / Oder.
Die Demokratie wirkt manchmal ohnmächtig
Wie der Staat beugen sich auch viele Bürger dem Gesetz des Ultrakapitalismus. Dies geschieht aus Ohnmacht, Orientierungslosigkeit und Opportunismus. In den vergangenen vier Jahrzehnten boten die Demokratien keine realistische Alternative zu einer Politik, die sich halb resigniert, halb geschmeidig in den Dienst der Kapital- und Arbeitgeber stellte. Roger de Weck warnt: „Die liberale Demokratie wird jedoch undemokratisch, wenn sie stets den Sachzwängen einer Machtwirtschaft unterliegt, die sie nicht zu ordnen vermag.“ Ein bisschen mehr nach rechts, ein Spürchen nach links – die Wähler wählen, und dann entscheidet der Markt? Auf die Dauer spüren alle, dass in der Wirtschaftspolitik die Regierung tut, was eine andere Regierung auch täte. Die Franzosen sprechen hier vom Einheitsdenken. Roger de Weck ist ein Schweizer Publizist und Ökonom.
Das Bewusstsein eines anderen ist unergründbar
Es gibt eine besondere Form des Skeptizismus. Diese bleibt auch dann ein Problem, wenn man annimmt, dass das menschliche Bewusstsein nicht das Einzige ist, was es gibt. Dass also die physikalische Welt, die jeder Mensch um sich herum sieht und spürt, den eigenen Körper eingeschlossen, wirklich existiert. Thomas Nagel erläutert. „Es handelt sich um einen Skeptizismus in Bezug auf die Natur oder gar die Existenz eines Bewusstseins außer unserem eigenen oder von Erlebnissen außer unseren eigenen.“ Wie viel weiß man wirklich über das, was im Bewusstsein eines anderen vorgeht? Man beobachtet offenbar nur den Körper eines anderen Wesens, auch eines anderen Menschen. Der amerikanische Philosoph Thomas Nagel lehrt derzeit unter anderem an der University of California, Berkeley und an der Princeton University.
Populisten befolgen nicht den Willen des Volkes
Populisten erheben nicht den Anspruch, den Willen des Volkes zugleich zu formen und zu befolgen, wie demokratische Politiker dies im Großen und Ganzen tun. Sie geben vor, sie fänden ihn lediglich vor. Denn der kollektive Wille lässt sich unmittelbar aus dem einen und einzig authentischen Verständnis des Volkes ableiten. Was dagegen zeichnet ein nichtpopulistisches Verständnis von Volk aus? Jan-Werner Müller erklärt: „Die Debatten politischer Philosophen über diese Frage bewegen sich meist zwischen zwei Extremen.“ Auf der einen Seite findet sich die Position, eine moralisch korrekte Theorie sei in der Lage, die politischen Grenzen ein für alle Mal zu klären. Verteidiger des Nationalismus als einer moralischen Theorie vertreten zum Beispiel die Auffassung, alle größeren Gruppierungen mit gemeinsamer Kultur müssten politische Selbstbestimmung genießen. Jan-Werner Müller ist Roger Williams Straus Professor für Sozialwissenschaften an der Princeton University.
Jeder Mensch sollte einige Grundregeln beherrschen
Eine Flut von Wissen ist für Ille C. Gebeshuber genauso schlecht wie fanatischer, blinder Glaube, der nichts hinterfragt. Deshalb ist es notwendig, das in der generellen Ausbildung das additive Wissen der Wissenschaft durch mutatives, also angepasstes Wissen zu ersetzen. Dieses reduziert man auf ein klares, aber anwendbares Minimum. Dabei ist es im Prinzip nur notwendig, ein gesichertes Maß an Grundregeln zu besitzen. Daneben sollte man die Regeln kennen, mit denen die verfügbaren Informationen zu neuem Wissen zusammengefügt werden können. Ille C. Gebeshuber erklärt: „Mit der Erfahrung einiger Lebensjahre können wichtige Zusammenhänge so selbst erkannt und verstanden werden.“ Den riesigen Haufen an Wissen, der überall verfügbar ist, kann man zur Überprüfung der eigenen Schlüsse heranziehen. Ille C. Gebeshuber ist Professorin für Physik an der Technischen Universität Wien.
Griechenlands Demokratie war keine Wohlfühloase
Die griechische Demokratie war alles andere als eine Wohlfühloase. Jürgen Wertheime weiß: „Sehr viel eher war sie ein permanentes psychisches und physisches Testlabor und eine Art mentales Trainingslager. Was auf dem Theater durchgespielt wurde, konnte im Alltag auch und gerade bekannter Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens den Tod bedeuten.“ Die großen Philosophen wie Sokrates, Platon, aber auch die Vorsokratiker wie Empedokles standen unter Generalverdacht. Und oft bedurfte es nur einer speziellen politischen Konstellation, um sie zu Fall zu bringen. Für Platon zum Beispiel waren die Herrschaftsmethoden der 30 Oligarchen ein tiefer Schock. Diese hatten 404 v. Chr. nach der Niederlage Athens im Peloponnesischen Krieg die Macht an sich gerissen. Jürgen Wertheimer ist seit 1991 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen.
Ein Erlebnis beschreibt die subjektive Wahrnehmung
Der Gedanke, dass jede Gruppe ihre eigene Identität hat, die Außenstehenden nicht zugänglich ist, spiegelt sich im Gebrauch des Begriffs „gelebte Erfahrung“ wider. Dieser ist seit den siebziger Jahren in der Populärkultur explosionsartig gewachsen. Francis Fukuyama stellt fest: „Die Unterscheidung zwischen Erfahrung und Erlebnis beschäftigte eine Reihe von Denkern im 19. Jahrhundert.“ Erfahrung kann man teilen, wenn man etwa chemische Experimente in unterschiedlichen Laboratorien nachstellt. Erlebnis dagegen beschreibt die subjektive Wahrnehmung von Erfahrungen, die sich nicht unbedingt teilen lassen. Der Schriftsteller Walter Benjamin war der Ansicht, dass sich die Moderne aus „Schockerfahrungen“ zusammensetzt. Diese hindern die Individuen daran, ihr Leben als Ganzes zu sehen und erschweren es, Erlebnis in Erfahrung umzuwandeln. Francis Fukuyama ist einer der bedeutendsten politischen Theoretiker der Gegenwart. Sein Bestseller „Das Ende der Geschichte“ machte ihn international bekannt.
Die Wahrheit ist in großer Gefahr
Es tobt eine Riesenschlacht um die Wahrheit. Es gibt Fake News, alternative Fakten, Verschwörungstheorien, die Lügenpresse und ein postfaktisches Zeitalter. Die Öffentlichkeit wird erschüttert von Schlagworten und Diskussionen um alles oder nichts. Peter Trawny warnt in seinem neuen Buch „Krise der Wahrheit“: „Die Situation ist unübersichtlich. Es droht ein allgemeiner Orientierungsverlust. Alles weist darauf hin, dass es einen gefährlichen Anschlag auf die Wirklichkeit gibt, eine Krise der Wahrheit.“ Aus unsichtbaren Informationskanälen bricht ein Virus hervor und vergiftet die Gesellschaft. Ein Streit um die Deutungshoheit der Wahrheit ist unvermeidbar. Der Naturwissenschaft liegen Regeln zugrunde, die alle kennen können und wenig Anlass zu Misstrauen bieten. Die Frage wäre also, warum man diese Regeln zu ignorieren versucht. Peter Trawny gründete 2012 das Matin-Heidegger-Institut an der Bergischen Universität in Wuppertal, dessen Leitung er seitdem innehat.
Der Kapitalismus schien 1989 triumphiert zu haben
Dass es in den USA und vielen anderen Industriestaaten nicht besonders gut läuft ist noch gelinde ausgedrückt. Im ganzen Land herrscht weitverbreiteter Unmut. Joseph Stiglitz erläutert: „Den in den letzten 25 Jahren vorherrschenden wirtschafts- und politikwissenschaftlichen Theorien zufolge war das nicht zu erwarten.“ Nach dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 verkündete Francis Fukuyama „Das Ende der Geschichte“. Denn seiner Meinung nach hätten die Demokratie und der Kapitalismus endgültig triumphiert. Eine neue Ära globalen Wohlstands mit höherem Wirtschaftswachstum den je zuvor stünde jetzt bevor. Und Amerika würde dabei die Führung übernehmen. Heute scheint von diesen hochfliegenden Ideen nichts mehr übrig zu sein. Joseph Stiglitz war Professor für Volkswirtschaft in Yale, Princeton, Oxford und Stanford. Er wurde 2001 mit dem Nobelpreis für Wirtschaft ausgezeichnet.
Manche Philosophen halten den Geist für ein Gespenst
Eine mächtige Strömung der Philosophie des Geistes speist sich aus einer peinlichen, aber tiefsitzenden Äquivokation. Dabei verwechselt man den Geist mit einem Gespenst, das heißt mit einem Phantom. Markus Gabriel erläutert: „Der Geist wird für diese Strömung dadurch zum Phantom, dass er durch diejenige begriffliche Voreinstellung durch das Raster der Wirklichkeit fällt.“ Das ist objektiv und damit insbesondere unabhängig von der subjektiv gefärbten Auffassung eines bewussten, geistigen Lebewesens der Fall. Als geistiges Lebewesen kann man sich über allerlei im Irrtum befinden. Daher liegt es nahe, das Subjekt lieber gleich aus der Wirklichkeit zu entfernen. Markus Gabriel hat seit 2009 den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne. Zudem ist er dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.
Die vierte Gewalt existiert nicht mehr
Rudolf Augstein, Gerd Bucerius und Henri Nannen – Mogule von Besatzers Gnaden. Und wie die Helden in Hollywoodwestern, die zu ihrer Zeit über die Bildschirme flimmerten, verkörperten sie das Ideal von Freiheit. Anders Indset erklärt: „Freiheit der Meinung verbunden mit informationeller Selbstbestimmung. Die vierte Gewalt.“ Doch wo findet man diese vierte Gewalt heute? Wo sind die Meinungsmacher geblieben? Vielleicht versteckt hinter „Fassaden in der Mache“ als Influencer oder Getriebene von einer technologischen Elite, um neue Medienplattformen zu schaffen. Denn Medien lieben die Erfolgreichen, Erfolgreiche lieben die Medien. Clubhouse, Podcast, IGTV … Frei nach Neil Postman sind viele Menschen dabei, sie zu Tode zu amüsieren. Noch schlimmer, sie betäuben sich allumfänglich, der sie in eine unbewusst konsumierende Gesellschaft der Gefälligkeit versetzt. Anders Indset, gebürtiger Norweger, ist Philosoph, Publizist und erfolgreicher Unternehmer.
Christopher Clark kennt die Geschichte der Mächte
Die Geschichte der Mächte konnte sich unter der Rubrik Disruption und Wandel entfalten.“ „Zerbrechlichkeit und Instabilität sind untrennbar mit den Werken der Menschen verbunden“. Das schrieb Friedrich II. von Preußen im Jahr 1751. Und das sei auch gut so, glaubte der König. Denn wenn es keine großen Unruhen gebe, gebe es „auch keine großen Ereignisse.“ Der von Aufstieg und Niedergang, den die großen Mächte der Weltgeschichte beschrieben, erinnerte den König an die regelmäßigen Bewegungen der Planeten. Christopher Clark fügt hinzu: „Die Untersuchung der Laufbahn großer Staaten handelte somit von der Veränderlichkeit und Unbeständigkeit von Macht. Die Hegemonie jedes einzelnen Staates war stets befristet.“ Die mächtigen Reiche des Altertums im Nahen Osten, in Griechenland und Rom sind inzwischen nur noch Ruinen. Christopher Clark lehrt als Professor für Neuere Europäische Geschichte am St. Catharine`s College in Cambridge.